Freitag, 12. Oktober 2007

Kontrapunkt: Wahrhafftiger Bericht über einen stattgehabten Kakerlakologenkongress


Was genau die Veranlassung zu dem unten reproduzierten Text vom 18.06.1970 gab, weiß ich nicht mehr; vielleicht hatte ich von der Lektüre des Buches "Der eindimensionale Mensch" von Herbert Marcuse die Schnauze voll.

Warum ich die Satire auf die Kakophonie der hypertrophierenden Gesellschaftswissenschaften heute hier einstelle?
Nun, zum einen habe ich sie soeben wieder aus alten Papieren exhumiert. Und zum anderen will ich Ihnen damit demonstrieren, dass ich auch ernsthafte Sachen schreibe; nicht nur so'n Zeug wie das Dausenau-Gedicht. Im übrigen waren Ironie und Romantik ja schon zu Zeiten der literarischen Bewegung der Romantik eng miteinander verflochten.
Aber hier nun endlich der Text (der allerdings ein Torso geblieben ist):


Ffm., 18.06.1970

47. Tagung der Gesellschaft der Freunde der Kakerlakenforschung.

Aus der Ansprache des Präsidenten, Essensus Numinosus Schabig.

Liebe Mitforscher, verehrte Freunde der Kakerlakologie!

Als unsere Gesellschaft vor nunmehr 15 Jahren von einer kleinen Gruppe Laien, Hobbyzoologen, Zoosoziologen und Anthropomorphisten gegründet wurde, konnte noch niemand von uns ahnen, welche gesellschaftliche Bedeutung der Erforschung der blatta orientalis und allgemein der Blattaria zukommt. Heute erst, hervorgerufen nicht zuletzt durch die heilsame Unruhe der kritischen Jugend, rückt diese Bedeutung langsam ins öffentliche Bewusstsein. Gleichzeitig setzen wir neue Schwerpunkte in unserer Arbeit, die von der einfachen Küchenschabe immer mehr abrückt und sich der sozial-analog weitaus interessanteren Phyllodromia germanica zuwendet. (Auf diese veränderte Schwerpunktsetzung dürfte sich auch der Antrag der Gruppe 69 beziehen, den Namen der Gesellschaft abzuändern; ich komme später darauf und auf die Anmerkungen der Zeitschrift zîtkürzel, die unter dem Titel "nomen est pretium" auf das niedrige Sozialprestige, das das Wort "Kakerlak" einbringe, verwies und zur Änderung riet, noch zurück.) Indem nun unsere Forschungen sich immer vielfältiger gestalten, sich immer mehr verzweigen und spezialisieren, bauen sich gleichzeitig zwei Hindernisse auf, von denen das eine sozusagen erst "richtig im Kommen ist", das andere - hoffentlich bald überwunden werden kann: Kommunikationsbarrieren, die aus einer nicht immer in der Sache begründeten terminologischen Verfeinerung und sogar terminologischen Verwirrung resultieren, einerseits, Mangel an Mitteln und ausreichend qualifiziertem Forschernachwuchs andererseits.

Unser scheinbar so beschränktes Gebiet der Schabenforschung hat einen solch stürmischen Aufschwung genommen, dass eine systematische Katalogisierung ihrer Zweige durch den amerikanischen Forscher Prof. COCKROACH, einen verdienten Pionier unserer Wissenschaft, allein 77 desperate Disziplinen ergab, die ihre Ergebnisse in jeweils mindestens einer eigenen Zeitschrift veröffentlichen. Die internationale Zeitschrift "NOCTU", die seit einem Jahr nicht nur in englischer, französischer und deutscher , sondern auch in russischer, japanischer, spanischer und portugiesischer Ausgabe erscheint, und deren Artikel teilweise sogar in chinesischen Wissenschaftsjournalen publiziert werden, musste bekanntlich bereits vor 5 Jahren ihre Funktion ändern. Aus einem Organ zur Publikation von Monographien wurde sie zu einem Referatenjournal, gleichzeitig erschien sie zunächst monatlich statt vierteljährlich, und seit zwei Jahren sogar wöchentlich. Vor sechs Monaten begann eine Gruppe jüngerer Kakerlakologen mit der Publikation der "kritischen Kakerlakologie", einer Zeitschrift, welche die meisten von Ihnen nicht in den Kreis der seriösen Fachorgane einrechnen werden, die aber gleichwohl allein durch ihre Existenz zur Schaffung eines Problembewusstseins in unseren Reihen und - wichtiger - in der Öffentlichkeit beigetragen hat. Waren wir nicht manchmal allzu zaghaft bei der Anmeldung unserer berechtigten Forderungen? Müssen wir uns nicht auch selbst die Schuld geben, wenn wir heute nach den Ursachen der stiefmütterlichen Behandlung durch Kultus- Wissenschafts- und Finanzminister fragen?

Bevor wir klagen: was haben wir geleistet, was können wir vorweisen? Denn darauf sieht ja unsere repressive Leistungsgesellschaft; nicht auf menschliche Selbstäußerung, wie sie die Kakerlakologie vielleicht mehr als jede andere Wissenschaft ermöglicht, nicht auf Entfaltung des denkenden Menschen. Nun, ich glaube wir können vor der Wissenschaftsgeschichte bestehen. Seit 1929 die exakte Erforschung der Blattaria mit der Arbeit des deutschen Privatgelehrten Stirner über "Die Funktion der nocturnalen Gesellungsvorgänge der Blatta orientalis in der Sozialökologie der städtischen Zivilisation" exemplarisch die repressive Wirkung der Insektizide aufzeigte, konnte Schritt für Schritt eine frappierende Analogie sozialer Interaktion mit der Interaktion der Kakerlaken nachgewiesen werden.



Notiz vom 29.10.07:

Ein Fan von Stanislaw Lem war (und bin) ich nicht. Aber da er nun einmal so bekannt ist, und ich Urlaub hatte, und das Buch auf dem Flohmarkt in Hannover nur 1,- € kostete, nahm ich es mit: "Die phantastischen Erzählungen", eine Anthologie , im Insel-Verlag in Frankfurt a. M. ursprünglich erschienen 1980 und mir in der 3. Auflage von 1982 (Hardcover) in die Hände gefallen.
Warum ich beim Lesen der Geschichte mit dem Titel "Professor A. Donda" (S. 140 ff.) gleich an meinen vorliegenden Blott denken musste, wird Lesern der Erzählung schnell klar werden.
Der Anfang und das Ende erinnern mich allerdings an ein ganz anderes Thema in meinem Blog, nämlich an "Ressourcenverknappung".


Nachtrag 15.03.2010

Wer weiß, warum mir bei der Lektüre des Eintrags "Publikationsunwesen: Qualität statt Quantität?" in dem Blog "(an)sichten" von Alexander Schatten, Wien, der vorliegende Blott wieder in Erinnerung kam?



Textstand vom 12.08.2019

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