Montag, 11. Juli 2005

Tante Erna und ein Brillenwechsel für Lupo Vecchio

Sie war jung und sah hinreißend aus.
Nicht Tante Erna, die zwar angenehm aussah, aber nicht mehr jung war, sondern jene junge Dame, welche irgendwann irgendwo in sein Blickfeld kam. Während Lupo Vecchio sie bewundernd anstarrte, und seinen Trappergedanken nachhing (das hat aber nichts mit Karl May zu tun: der wäre veranlagungsbedingt eher desinteressiert gewesen), nahm sie ihn wahr und wandte ihm den Blick zu.
Wie würde sie reagieren? Ärgerlich, hochmütig?
Nein: sie grüßte ihn fröhlich, herzlich, und gänzlich unbefangen. Ganz so, wie man einen lieben alten Opa begrüßt.
 
Da fiel ihm, aus welchen obskuren Gründen auch immer, seine verstorbene Tante Erna ein. Nicht in Form eines allgemeinen Gedenkens, sondern als Erinnerung an eine ganz konkrete Begebenheit. 
Die Familien- und Verwandtenrunde saß gesättigt beisammen; das Gespräch plätscherte leicht dahin. Berührte dieses und jenes, und natürlich auch jenes unerschöpfliche Thema aller Themen: das Wetter (auch wenn Sie bei "unerschöpfliches Thema" an etwas anderes gedacht haben mögen).
"Die alten Leute sagen ja, dass …" meinte Tante Erna.
Einige in der Runde sahen sich an; prusteten, und dann lachten alle: Tante Erna selbst war damals etwa 70 Jahre alt. Und lachte fröhlich mit, als sie den Grund der allgemeinen Heiterkeit erfasst hatte.

Nicht nur zur Illustration des Brillenwechsels bei Lupo Vecchio wird sie hier erwähnt, sondern auch, um ihr (wie zuvor schon Tante Klara - vgl. Eintrag "Margarinefigürchen oder wer stiehlt uns den Produktivitätsfortschritt?" vom 19.06.05) ein Denkmal zu setzen. Ich habe sie nicht nur deshalb gern gemocht, weil ich ihr mit viel Liebe zubereitetes Essen (insoweit war ich von daheim nicht gerade verwöhnt) und ihren vorzüglichen Kaffe sehr mochte. Es muss wohl eine tiefere Verbindung gegeben haben. Am Tag Ihres Todes (von einer Krankheit bei ihr wussten wir nichts) ging ich am späten Nachmittag mit meiner Frau im Wald spazieren. Wir hörten den Ruf eines Uhus (vermute mal, dass es ein solcher war, bin allerdings kein begeisterter oder auch nur kenntnisbeleckter Hobby-Ornithologe). Um meiner Frau etwas Angst einzujagen, sagte ich: "Das Käuzchen ruft, jetzt stirbt jemand." [Über diesen Volksglauben  (der freilich, wenn man von dem unterstellten Kausalzusammenhang einmal absieht, der Realität entspricht; schließlich stirbt ständig jemand)  vgl. z. B. hier: http://www.mittelalternative.de/eulengedicht.htm.]

Die Uhrzeit hatte ich nicht mehr im Kopf, und habe auch nicht nachgefragt, zu welcher Stunde Tante Erna gestorben ist; eine präzise Koinzidenz beider Daten wäre mir doch zu unheimlich gewesen.
 
 
Textstand 20.09.2021

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