Dass Banken Geld generieren können (Buchgeld, Giralgeld) ist banal und bekannt - soweit das auf dem Wege der Kreditvergabe geschieht. Bei diesen Schöpfungsakten sind sie allerdings auf die Hilfe der Realwirtschaft angewiesen: ohne Kreditnehmer keine Buchgeldschöpfung (dieser Art).
Meine Fragestellung geht dahin, ob das Finanzsystem (die Finanzwirtschaft, hier unter Ausschluss der Notenbank gedacht) die Geldmenge (Buchgeldmenge) rein aus sich heraus steigern kann, ohne jeglichen realwirtschaftlichen Bezug (und Nutzen).
Wenn ja stellt sich die weitere Frage, ob und ggf. auf welche Weise das Finanzsystem der Realwirtschaft die Kosten dieser Geldschöpfung in Rechnung stellen (sie gewissermaßen dafür tributpflichtig machen) kann.
Sollte beides zutreffen, dürften sich erhebliche Konsequenzen für unsere Betrachtung und für die Strategien zur Bewältigung der weltweiten Finanzkrise ergeben. (Womit natürlich immer noch offen bleibt, welchen Bezug zur oder welches Ergebnis für die weltweite Wirtschaftskrise das hat.)
Es ist wirklich meinerseits nur eine Frage, bzw. eine Arbeitshypothese. Zur Lösung müsste ich vieles wissen über Bilanzen überhaupt und über die Bilanzierungsvorschriften in Finanzwesen im Besonderen und ganz speziell über die Bilanzierung von Derivaten. Aber was die Wespen können (http://www.zeit.de/2009/0...) können wir doch auch, gelle? Nämlich unsere Kenntnisse kombinieren und dadurch weiter kommen.
In diesem Sinne präsentiere ich den klugen Köpfen, welche (vielleicht nicht immer, aber immerhin nicht selten) hinter der ZEIT stecken die Frage, ob das Finanzsystem durch den (systeminternen) Derivatehandel die Buchgeldmenge vergrößern kann.
Modellhaft stelle ich mir das so vor (wobei es immer um den Handel innerhalb des Finanzsystems geht; Derivateverkäufe an Private sind eine andere Sache):
Wenn eine Nehmerbank (Käuferin) von einer Geberbank (Verkäuferin) z. B. einen Credit Default Swap (CDS) ankauft, muss die erstere der letzteren eine Prämie zahlen. Diese muss sie natürlich aus der Kasse ausbuchen und somit ist die Käuferin entsprechend ärmer.
Die Verkäuferin bucht die Gebühr ein und ist entsprechend reicher.
Freilich hat nun die Käuferin ein Wertpapier (bzw. hatte: damals, als CDS' noch handelbar waren), dass sie z. B. an der Börse verkaufen könnte. Entsprechend müsste sie den Gegenwert auf der Habenseite buchen. Lassen wir die Transaktionskosten mal beiseite, hätte die Käuferin den Betrag aus der Kasse aus- und bei ihrem Wertpapierbestand eingebucht. Im Ergebnis wäre sie also gar nicht ärmer geworden.
Da nun aber die Geberbank (Verkäuferin) reicher, die Nehmerbank (Käuferin) jedoch nicht ärmer geworden ist (genauer: der Abfluss von Realgeld wäre durch den Zuwachs beim Buchgeld ausgeglichen), müsste, wenn man beide Banken zusammen als "das Finanzsystem" betrachtet, dieses System insgesamt (buchmäßig) reicher geworden sein. Und das allein dadurch dass sich die Geberbank ein Stück Papier ausgestellt und weiterverkauft hat!
Sollte das zutreffen, dürfte ein modernes Äquivalent zur Geldfälschung der Kipper und Wipper (http://beltwild.blogspot....) vorliegen.
Allerdings wäre meine Annahme dann möglicher Weise nicht haltbar, wenn z. B. die Verkäuferin bis zum Ablauf des CDS auf der Passivseite für die Gebühreneinnahmen in vollem Umfang Risikopositionen gegenbuchen müsste, die nicht zum Gewinn oder Eigenkapital zählen. Da blicke ich zu wenig durch, um das beurteilen zu können.
Falls aber tatsächlich eine Scheinbereicherung des Finanzsystems eintritt, wäre der Scheinreichtum des Systems nur transitorischer Natur: spätestens bei Fälligkeit des dem CDS zu Grunde liegenden Wertpapiers verfällt ja der eigenständige Wert des CDS, er ist wieder auszubuchen. [Das gilt auch dann, wenn ein "credit event" eingetreten ist, denn der CDS als solcher wird ja auch in diesem Falle wertlos, und das System buchungsmäßig um diesen Betrag ärmer, wenn Verkäuferin der Käuferin des 'Sicherungsscheins' den vollen Anleihebetrag auszahlen muss. Und diese letztere Transaktion ist natürlich in der Summe neutral, weil der Gewinn der Nehmerbank exakt dem Verlust der Geberbank entspricht.]
Könnte es sein, dass jene Rechnungen, welche das Finanzsystem jetzt den Staaten präsentiert, (auch; die Immobilienkrise ist natürlich ein weiteres Problem) darauf beruhen, dass hier eine Art Pyramidenspiel -Ponzi-Game; vielleicht müsste man jetzt Madoff-Game sagen ;-) - vorlag, welches jetzt (mangels Vertrauen der Teilnehmer) an seine Grenzen gestoßen ist?
Abgesehen vom aktuellen Ruf nach Staatsknete: könnte das Finanzsystem der Realwirtschaft noch auf andere Weise (zu Zeiten, als das derivative Pyramidenspiel noch funktionierte) Rechnungen präsentiert haben? Ich denke ja; die Bilanzen und die ausgewiesenen (Buch-)Gewinne werden ja auf diese Weise aufgebläht; bei einer Kapitalerhöhung z. B. müssten Aktionäre ein höheres Aufgeld zahlen.
Die Banken hätten höhere Ausschüttungen (Dividenden, ggf. Aktienrückkäufe) gezahlt, als ohne diese Scheingewinne. Die Ausschüttungen wandeln sich bei den Empfängern natürlich in Forderungen gegen die reale Wirtschaft um: Man kann sich damit Yachten kaufen, Flugzeuge, Aktien oder das Geld aufs Konto legen, wo es jederzeit wieder abgezogen und in reale Güter eingetauscht werden kann.
Auch die Banker-Boni wären dann wohl teilweise aufgrund dieser Scheingewinne entstanden.
Erstaunlich wäre freilich, dass ein solches System der Geldfälschung noch nicht zu einer Hyperinflation geführt hat. Das ließe sich vielleicht damit erklären, dass die "Player" das Geld zum allergrößten Teil im Finanzkreislauf gelassen und eben keine Waren und Dienstleistungen davon gekauft haben (weil sie gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Geld).
Dass der Staat die Zeche bezahlen soll, wäre bei Gültigkeit meiner Annahmen folgerichtig: es war ja teilweise gar kein wirkliches Geld (d. h. einschließlich realer Forderungen aus Krediten), das da im Finanzsystem kursierte. Erst der Staat (also letztlich die Steuerzahler, über reguläre Steuern oder, insoweit als die Aktionen von den Notenbanken finanziert werden, durch Inflationssteuer) kann das Scheingeld oder Falschgeld in Ansprüche gegen die Realwirtschaft umwandeln.
Da ich keine Bankaktien besitze und keine Boni bekommen habe, aus meiner Sicht ein suboptimales Ergebnis.
Indes kann nicht einmal ich mir vorstellen, dass man das Finanzsystem einfach über die Wupper gehen lassen kann.
Wie also (das wäre eine dritte Frage) bekommen wir die Guten ins Kröpfchen und die Schlechten ins Töpfchen (zum Wegkippen)?
Aber das geht schon über die Zielsetzung meines vorliegenden Zeit-Leserartikels hinaus.
Hier will ich die Leserinnen und Leser nur um Ihre Hilfe bitten bei der Verifikation oder Falsifikation meiner Hypothese, dass es die Mechanismen des Finanzsystems erlauben eine (vorübergehende) Geldschöpfung rein innerhalb des Systems zu bewerkstelligen (ggf. auch auf andere Weise als in meinem Modell beschrieben).
Danke!
Für weitere Überlegungen zu dieser Fragestellung vgl. auch meinen Blott "Kipper, Wipper, Notenbanken".
Nachtrag 20.2.09: Zumindest habe ich nun eine Bestätigung dafür gefunden, dass Derivate (bei der kaufenden Bank) so verbucht werden, wie ich es vermutet hatte:
"entsprechend der Bilanzierungsvorschriften der Marktwert der Derivate in der Bilanz erfasst" meldet die HRE (zitiert z. B. hier in der FAZ).
Einen etwas anderen denkbaren Weg der Geldvermehrung habe ich in einem Kommentar (Nr. 9) zu einem (fremden)Zeit-Leserbriefartikel "Hypo Real Estate und die 100 Milliarden" beschrieben. Ausgangspunkt war bzw. die Anregung dazu gab der Kommentar Nr. 7. Dort hatte Erich Gengerke (mit Bezug auf einen anderen Vorkommentator) geschrieben:
"Gebetsmühlenartig, verehrter "Auf ein Wort": Geld wird in einer solchen Situation nicht vernichtet, es wird auch nicht verbrannt, sondern es wechselt schlicht den Besitzer."
Das gab mir Veranlassung zur Entwicklung eines Modells, in welchem Geld (Buchgeld) nicht einfach den Besitzer wechselt, sondern tatsächlich gewissermaßen 'von selbst' entstehen und vergehen kann, ohne dass es von einer Hand in die andere gelangt:
"Mit dem "Besitzerwechsel" habe ich gewisse Probleme:
Nehmen wir an, 1000 Aktionäre haben je eine Aktie zum Preis von 10,- € gekauft und vergraben sie dauerhaft in ihren Depots. Deren Gesamtwert beläuft sich somit auf 10.000,- €.
An der Börse werde täglich eine Aktie gehandelt, zunächst ebenfalls zum Preis von 10,- €.
Langsam steigt der Kurs und schließlich wechselt täglich eine Aktie (nehmen wir mal an, es wäre immer dieselbe) zum Preis von 20,- € den Besitzer.
Nun beläuft sich (auf Basis der aktuellen Marktbewertung, wie sie in der Finanzwelt bislang jedenfalls m. W. zwingend vorgeschrieben war) der Depotwert (Buchwert) für alle Aktionäre insgesamt auf 20.000,- €.
Dann gehen die Lehman-Brüder um; die (eine) Aktie wird an der Börse wie eine heiße Kartoffel für 1,- € gehandelt.
Dadurch sind sämtliche alle Aktionäre plötzlich und unerwartet bettelarm geworden: ihr gesamter Depotwert beträgt gerade noch 1.000,- €.
Bezahlt haben die Aktionäre 10.000,- €: dieses Geld hat jetzt ein anderer.
"Besessen" haben die Aktionäre zwischenzeitlich jedoch 20.000,- €, also 10.000,- € mehr. Dieses Geld hat niemand; es stand lediglich auf dem Papier. (Abgesehen von den 10,- €, die irgend jemand beim Handel mit der einen Aktie an der Börse verdient hat.)
Mir scheint, dass diese beiden Sachverhalte allzu leicht durcheinander gebracht werden."
In diesem Modell besteht immer noch ein (wenngleich nur noch sehr loser) Zusammenhang mit der Realwirtschaft, weil es ja um Aktien geht. Die gleichen Mechanismen wären aber natürlich auch bei anderen Wertpapieren wirksam, bei Anleihen z. B. (die auch noch einen Bezug zur Realwirtschaft haben) oder eben bei Credit Default Swaps, die reine Geschöpfe des Finanzsystems sind. Gänzlich ohne Bezüge zur Realwirtschaft - in diesem Falle zur Bonität des Kreditnehmers des / der zu Grunde liegenden Kredits / Anleihe - sind nicht einmal die CDS', aber natürlich ist der Zusammenhang noch mehr aufgelöst.
Vor allem aber sind Derivate wie z. B. die Credit Default Swaps reinrassige Geschöpfe des Finanzsystems, welche zu ihrer Entstehung keinerlei Hilfestellung der Realwirtschaft benötigen. Hier schöpft - wenn meine Annahme zutrifft - die Finanzwirtschaft 'Geld' völlig aus sich heraus.
Die Bewertung kommt allerdings in beiden Fällen vom Markt (z. B. in Gestalt von Börsenkursen), also insoweit "von außen", als der Wertpapiermarkt und die Börse ja auch ein Teil der realen Wirtschaft ist. Wie immer man das sehen mag: auf jeden Fall können die "Player" die Kurse nicht (im großen Rahmen und auf Dauer) selbst steuern; hier sind auch sie die Spielbälle der Märkte.
Anders als bei Krediten haben sie es bei dieser Form der "Geldschöpfung" also nur bedingt in der Hand, selbst über deren Umfang zu entscheiden. Hinsichtlich der im Besitz er Kreditinstitute befindlichen Wertpapiere ist es der Markt, der über deren Bewertung und damit auch darüber entscheidet, ob die daraus verbuchte "Geldmenge" steigt oder sinkt.
Nachtrag 17.02.2009
Weiteres Nachdenken bringt mich zu einer Unterscheidung, welche vielleicht die Möglichkeit einer tieferen Einsicht in jene Aspekte der Finanzmarktkrise bietet die sich nicht auf die Immobilienblase zurückführen lassen.
Das Finanzsystem besitzt 3 - wie soll ich sagen? Geldarten? Ich sage lieber vage: 'Wertarten'; ein präziserer Begriff für das, was ich bezeichnen will, fällt mir derzeit leider nicht ein.
Diese drei 'Wertarten' sind zunächst:
1) Bargeld und
2) Forderungen gegen Schuldner (Kredite, Rentenpapiere).
Das sind die klassischen 'Werte' im Finanzsystem.
Im Laufe der Zeit ist aber eine weitere 'Werteklasse' hinzugekommen, die eine ganz andere Natur hat als die beiden vorgenannten Arten. Bargeld und Forderungen lassen sich gemeinsam in der Kategorie "Forderungen" zusammenfassen, denn Bargeld war ja lange Zeit eine Forderung auf eine bestimmte Goldmenge. Auch wenn die Goldbindung weggefallen ist, bedeutet der Besitz von Bargeld noch immer den Anspruch auf einer bestimmte Menge an Gütern und Dienstleistungen; diese kann ich mit dem Geld kaufen, also beanspruchen.
Die dritte Werteklasse ist zum großen Teil eine 'Luftnummer': in den Büchern steht ein Wert, der möglicher Weise niemals zu realisieren ist. Die Höhe der Forderung ist hier nicht mehr durch eine Art 'Tauschgeschäft' bestimmt. Die Geldeinlage bei der Bank oder die Kreditvergabe durch die Bank sind ein Tausch von Geldhingabe gegen ein Rückzahlungsversprechen; der Wert - Nominalwert plus Zinsen - wird durch eine Vereinbarung zwischen den Tauschpartnern definiert und ist eindeutig festgelegt.
Ganz anders bei der Forderung Nr.
3) Nicht direkt einlösbare Wertpapiere.
Damit meine ich z. B. Aktien, die man nicht direkt bei der ausgebenden Firma einlösen kann (Aktienrückkaufprogramme mal ausgenommen). Anders ist das z. B. Anleihen, die zwar auch eine Wertpapierklasse darstellen und an der Börse handelbar sind, die aber irgendwann vom Emittenten wieder eingelöst werden müssen. Das sind Kredite (Nr. 2). Zwar können, anders als bei normalen Krediten, Anleihekurse in der Zwischenzeit schwanken. Jedoch entfernen sie sich in aller Regel sich nicht extrem weit vom Nominalwert.
Bei Aktien (und dann in noch einmal potenzierter Form bei -handelbaren- Derivaten) ist alles anders. Deren Wert bestimmt sich nicht nach einem Rückzahlungsversprechen, sondern wird sozusagen 'symbolisch' durch einen Vergleich mit denjenigen Preisen bestimmt, welche beim tatsächlichen Handel mit solchen Wertpapieren entstehen.
Das kann zu gigantischen Verzerrungen führen. (Bei den Derivaten gibt es ein Zahlungsversprechen, z. B. beim Credit Default Swap die Verpflichtung des Gebers, im Falle eines Kreditausfalls dem Nehmer den Schaden zu ersetzen. Aber so lange ein solches "Kreditereignis" nicht eingetreten ist, kann der Wert eines CDS im wesentlichen nur durch Vergleich mit den Marktpreisen ermittelt werden, welche von anderen für dieselben oder ähnliche 'Produkte' bezahlt werden.)
Würden in meinem o. a. Beispiel die Aktionäre versuchen, ihre 1.000 Aktien auf einen Schlag an der Börse zu verkaufen, würde die wahrscheinlich crashen. Speziell beim Handel mit Derivaten gibt es vermutlich nicht einmal so viel 'richtiges' Geld (Bargeld und aus Krediten geschöpftes Buchgeld), um diese Fantasieprodukte der Finanzwirtschaft zu bezahlen. Da aber immer nur kleine Mengen gehandelt werden, kann der Preis 'am Markt' (an der Börse) sozusagen 'beliebig' hoch steigen. Er bildet aber dann keinerlei wirklichen Wert in dem Sinne mehr ab, dass der Wertpapierinhaber gegen irgend jemanden eine rechtswirksame Forderung in dieser Höhe hätte. So gesehen, hat eine Aktie keinerlei 'inneren' Wert - wie die Aktionäre von General Motors oder HRE leidvoll erfahren mussten. [Und ebenso die Zocker zu Zeiten der Technologieblase - Neuer Markt -: da brauche ich nur in den Spiegel zu schauen ;-) ]
Wenn der Anteil dieser Wertklasse in den Finanzinstituten in den letzten Jahren stark gestiegen ist, und wenn die Probleme der Finanzbranche -auch- wesentlich durch den Verfall der Kurse derartiger Wertpapiere am Markt enstanden sind, dann hilft uns diese Unterscheidung der 3 (bzw., wenn ich Pos. 1 + 2 zusammenfasse, was sinnvoll erscheint:) der 2 verschiedenen Wertkategorien vielleicht, die Finanzkrise besser zu verstehen und sinnvolle Regulierungen als Vorbeugung gegen künftige Krisen zu schaffen.
Nachtrag 18.02.09
Im heutigen Handelsblatt-Bericht "Finanzkrise. Studie: Krise schmälert Bankenwert um 5,5 Bio" werden Zahlen über die Wertschrumpfung der Banken genannt:
"Nach einer Studie der Unternehmensberater hat die Krise den Börsenwert aller Banken bisher um 5,5 Billionen Dollar geschmälert. Dies entspräche zehn Prozent der jährlichen globalen Wirtschaftsleistung. Zu Beginn der Finanzkrise im Herbst 2007 habe sich der Börsenwert aller Banken noch auf 8,8 Billionen Dollar belaufen. Bis Ende vergangenen Jahres schmolz ihr Wert auf vier Billionen Dollar und verlor dann allein in den ersten drei Wochen des Jahres noch einmal 700 Mrd. Dollar auf 3,3 Billionen Dollar."
Derartige Zahlen bestärken mich in meiner Meinung, dass wir es in den letzten Jahren im Bankenwesen mit einer gewaltigen Geldschöpfung neuer Art, nämlich außerhalb der Notenbanken und außerhalb des Kreditsektors, zu tun hatten, die jetzt in eine Geldvernichtung umgeschlagen ist.
Nachtrag 22.02.2009
Um meine Überlegungen noch einmal zusammen zu fassen:
Das Finanzsystem kann bekanntlich durch Kreditvergabe Geld (Buchgeld) schöpfen ("Kreditgeldschöpfung" -Weg 1- will ich das hier nennen, um es von den u. g. Formen der Buchgeldmacherei zu unterscheiden).
Dabei, aber ebenso bei den nachfolgend beschriebenen weiteren Wegen zur 'Geldvermehrung', handelt es sich im Prinzip immer um eine lediglich vorübergehende Geldvermehrung, und um eine reine Buchgeldschöpfung. Real gewinnt das Finanzsystem allerdings die von der kreditnehmenden Realwirtschaft zu zahlenden Zinsen; diese sind 'ehrlich verdient' (zumindest im Vergleich zu den u. g. Wegen der Geldschöpfung; auf die Zinskritik von marxistischer, freiwirtschaftlicher oder moslemischer Seite will ich hier nicht eingehen).
Ich gehe davon aus, dass das Finansystem darüber hinaus die Fähigkeit hat, aus sich heraus und völlig ohne Bezug zur Realwirtschaft vorübergehend Geld zu generieren. Dies wird (nach meiner Vermutung)durch die Bilanzierungsregeln ermöglicht bzw. geradezu erzwungen ("Derivategeldschöpfung" -Weg 2-, um dem Kind für den Augenblicksgebrauch mal einen - wenngleich nicht sehr schönen- Namen zu geben). (Der Weg 2 steht außerdem in einem engen Zusammenhang mit dem Weg 3.)
Ein dritter Weg zur Geldschöpfung (diese kann theoretisch sogar dauerhaft sein; andererseits schlägt sie jedoch bei fallenden Börsenkursen bzw. Marktpreisen unmittelbar in eine Geldvernichtung um) ist die Buchung von marktgängigen Werten in Abhängigkeit von der, pauschal gesagt, Börsenlage (ich sage mal: "Bewertungsgeldschöpfung" - Weg 3). Auch dieser Zusammenhang dürfte im Verlaufe der Finanzkrise erheblich zu deren Verschärfung beigetragen haben und muss also ins Auge gefasst werden, ist jedoch nicht mit dem zu verwechseln, was ich momentan mal als 'aktive innersystemische Geldschöpfung' bezeichnen will.
Bei der 'Bewertungsgeldschöpfung' ist das Finanzwesen nämlich auf der Ebene der konkreten Fälle passiv (dass es die Höhe der Börsenkurse insgesamt mit- oder sogar wesentlich bestimmt, lasse ich außen vor; ebenso Manipulationsmöglichkeiten im Einzelfall), es produziert (i. d. R.) diejenigen Wertpapiere nicht, um die es hier geht (Aktien, Anleihen) und ist bezüglich deren Bewertung gewissermaßen ein Spielball der Börse.
Also nochmal:
Weg 1 = (temporäre) Kreditgeldschöpfung (allgemein bekannt)
Weg 2 = (temporäre) Derivategeldschöpfung (vielleicht sollte man besser sagen: 'Geldschöpfung durch Ausgabe von handelbaren Versicherungspolicen' oder, kürzer und einprägsamer, 'Eigengeldschöpfung'?)
Weg 3 = (temporäre) Bewertungsgeldschöpfung (brauchbare alternative Bezeichnung: 'Marktgeldschöpfung'?) (Hierzu wäre wohl auch die Buchung eines abstrakten Unternehmenswertes -"Goodwill"- zu rechnen; vielleicht auch von Patenten usw.?)
Diese drei Wege lassen sich nach einem zentralen Unterscheidungskriterium wiederum in zwei Gruppen zusammenfassen.
Bei der Kreditgeldschöpfung wird 'richtiges' Geld 'wirklich' bewegt. Das trifft natürlich in Wahrheit nicht zu, doch kann man sich diesen Weg der Geldschöpfung ("Mindestreservesystem", engl. "fractional banking") immerhin so vorstellen, dass vom Einleger eingezahlte Münzen -Kurantwährung- oder auch Geldscheine (teilweise) an einen Kreditnehmer ausgezahlt werden, dieser sie wieder zur Bank schleppt usw. - vgl. Wikipedia-Eintrag "Geldschöpfung").
Eigengeldschöpfung und Marktgeldschöpfung dagegen sind rein buchungsmäßige Vorgänge. Das bedeutet aber auch, dass sie von den Buchungsregeln abhängig sind. Nur wenn bzw. insoweit als diese es zulassen (oder gar erzwingen), findet eine Geldschöpfung statt.
Meine 'Wikipedia-Forschungen' haben mich wenigstens zu der Erkenntnis geführt, dass das deutsche Bilanzierungsrecht (Handelsgesetzbuch - HGB) diese Problematik schon lange kennt und es sogar einen deutschsprachigen Begriff für den Versuch einer Bewältigung gibt: "Imparitätsprinzip".
Zusammen mit dem "Niederstwertprinzip", das seinerseits wiederum ein Ausfluss des allgemeinen Gedankens eines bilanziellen Vorsichtsprinzips ist, sollte es (so jedenfalls stelle ich mir das vor, aber die tatsächlichen Wirkungen sind natürlich von den konkret geltenden Regeln abhängig) eine Geldschöpfung durch bloße Aufwertung von Vermögenswerten am Markt verhindern (nicht dagegen die Geldvernichtung durch fallende Marktpreise; die wäre nach dem Imparitätsprinzip -mehr oder weniger- voll zu buchen).
Die angelsächsische Kritik an einer solchen Art der Buchführung ist freilich nicht unberechtigt. Unter dem Wikipedia-Stichwort "Bankbilanz-Bewertung" wird die Problematik wie folgt beschrieben:
"Durch die Möglichkeit der Glättung des Unternehmensgewinns wird bei den Kapitalgebern Vertrauen in die Sicherheit der Anlagen geweckt. Voraussetzung hierfür ist aber ein naiver wie unwissender Kapitalgeber als auch eine Bankleitung, die im Sinne der Kapitalgeber handelt."
Kapitalgeber (Aktienkäufer) werden bei einer Bilanzierung nach dem Vorsichtsprinzip in gewisser Hinsicht über den "wahren" Wert eines Unternehmens getäuscht:
Nehmen wir an, die Firma Firmeninvest AG besitze als einzigen Vermögenswert eine Aktie an einer anderen Firma (fiktiv: Porsche). Diese habe sie für 1.000,- € gekauft; inzwischen werde die Porsche-Aktie an der Börse für 10.000,- € gehandelt.
Nach dem Vorsichtsprinzip dürfte die Bilanz der Firmeninvest AG lediglich einen Wert von 1.000,- € ausweisen, obwohl die Firmenleitung durch einen Verkauf der Porsche-Aktie den Firmenwert problemlos auf 10.000,- € steigern (und diese 10.000,- an ihre Aktionäre ausschütten) könnte.
Wer das weiß, ist deutlich im Vorteil. Er kann dem umwissenden Firmeninvest-Aktionär dessen Anteile für 1.000,- € abkaufen, anschließend die Firmenleitung zwingen, 10.000,- auszuschütten (wie soeben beschrieben) und hat also durch seinen Informationsvorsprung 9.000,- € verdient. So oder so ähnlich arbeiten ja häufig (aber keineswegs immer; häufig steigern sie auch den Wert von Firmen durch ein besseres Management) die "Heuschrecken", engl. "corporate raiders" genannt, also "Unternehmensausplünderer".
Das ist bei einer marktnahen Bewertung (engl.: mark-to-market) nach angelsächsischen Buchführungsgrundsätzen im Prinzip nicht möglich (im Detail dürfte es da freilich einige Nischen geben; ansonsten wäre bereits die Entstehung des Phänomens der 'Firmenplünderer' im anglophonen Sprachraum unverständlich).
Kann man, und ggf. auf welche Weise, Vor- und Nachteile der beiden Buchführungssysteme kombinieren? Entscheidend wäre, insbesondere im Hinblick auf das Finanzsystem, dass
- Buchgewinne einerseits AUSGEWIESEN,
- andererseits aber nicht AUSGESCHÜTTET werden.
Denn das Finanzsystem wurde vermutlich (immer vorausgesetzt, meine Annahmen über die Derivategeldschöpfung treffen überhaupt grundsätzlich zu) auch dadurch wesentlich geschwächt, dass Buchgewinne als dauerhafte Gewinne behandelt und ausgeschüttet wurden: an die Aktionäre, als Boni, aber auch als Gehalt an die normalen Angestellten. Das gesamte System wäre (in diesem Teilbereich) parasitär gewesen. Eine realwirtschaftliche Verwendung rein buchungstechnischer und vor allem rein temporärer Geldgewinne lässt sich ausschließen, gleichwohl aber eine Anzeige dieser eventuellen Gewinne einschließen, wenn man in der Bilanz und in der Gewinn- und Verlustrechnung die Kategorie eines "Potenzialkapitals" (Bilanz, entsprechend ggf. natürlich "Potenzialverlust") bzw. "Potenzialgewinns" (GuV; entsprechend "Potenzialverlust") einführt.
Der Begriff "Potenzial" bezieht sich auf die Vorstellung der Möglichkeit einer Realisierung von Gewinn und Verlust, wie sie sich nach den aktuellen Marktverhältnissen darstellt. Von der Entstehung her wäre es anschaulicher, von (positivem bzw. negativem) "Bewertungskapital" zu sprechen und in der GuV von "Bewertungsgewinnen" bzw. "Bewertungsverlusten".
Boni und Gewinne aus eventuellen Bewertungsreserven dürften (im Prinzip; sachgerechte Detailregelungen mögen davon auch Abweichungen vorsehen) nicht ausgeschüttet werden, sondern erst bei einer Realisierung von Gewinnen durch Verkauf der entsprechenden Finanzaktiva.
Verluste müssten im Prinzip aufgefüllt werden; insoweit käme das Imparitätsprinzip zum Tragen. Im Detail könnte ich mir allerdings Abweichungen vorstellen; insbesondere könnte der Umfang der 'Auffüllungspflicht' davon abhängig gemacht werden, wie weit in der Zukunft sich die mutmaßlichen Verluste tatsächlich realisieren.
Auf diese Weise könnten wir vielleicht das Finanzsystem insgesamt robuster machen. Notfalls auch in einem Alleingang Kontinentaleuropas gegen das angelsächsische System, das mir im Kern doch sehr dem Räuberprinzip der alten Wikinger zu entsprechen scheint. Während unsere Bilnazierungsvorschriften nach HGB vielleicht mehr vom Nachhaltigkeitsdenken der Forstwirtschaft geprägt, aber insoweit, als diese den Eigentümern und der Öffentlichkeit Informationen vorenthalten, zweifellos gleichfalls unbefriedigend sind.
Habe ich hier neue Lösungsmöglichkeiten entwickelt oder habe ich lediglich das Rad neu erfunden? Wurden entsprechende Vorschläge bereits anderweitig entwickelt?
Erg. 4.3.09: Peter J. Wallison ist ein Wissenschaftler des Think Tanks "The American Enterprise Institute", einer Lobby für eine möglichst von staatlichen Einwirkungen freie Wirtschaft. Als solcher desinformiert er ohne Skrupel ahnungslose Leser z. B. in seinem (an sich durchaus informativen) Aufsatz "Everything You Wanted to Know about Credit Default Swaps--but Were Never Told" indem er ihnen weismachen will, dass die eigentlich nichts als nützliche Instrumente zur Risikobegrenzung sind und vor allem behauptet, dass diese Derivate kein größeres Risiko enthalten würden als die ihnen zu Grunde liegenden Anleihen ("reference entity" dt. vielleicht "bezogenes Wertpapier"(?)). Das sind sie zwar auch, und insoweit, als sie tatsächlich Kredite von Banken usw. besichern, vergrößern sie auch nicht das systemische Risiko. Tatsächlich aber können sie auch ausgestellt werden und werden oder wurden sie zumindest häufig ausgestellt, ohne dass der CDS-Käufer einem Kreditrisiko ausgesetzt gewesen wäre. In der Praxis werden oder wurden sie sehr weitgehend zu Spekulationszwecken genutzt und können von einer Finanzinstitution (konkret z. B. der AIG, die dadurch riesige Verluste machte) in weit größerem Umfang ausgestellt werden als Kredite ausgeliehen werden. Insoweit stellen sie Wetten dar, und wenn die 'Wettbüros' sich nicht ihrerseits abgesichert haben (was bei AIG nicht der Fall war), können sie dort gigantische Finanzlöcher aufreißen. Das alles versucht Wallisons Papier nach Kräften in den Hintergrund zu drängen; man muss also seine Texte (wie überhaupt die von AEI-Fellows) sehr kritisch lesen.
Allerdings kann ich in seinem Meinungspapier "Fair Value Accounting - A Critique" keine ideologische Nebenabsichten erkennen. Er kritisiert dort, recht detailliert und informativ, die vorgeschriebene extensive Anwendung des Zeitwertprinzips bzw. Marktwertprinzips für die Rechnungslegung der Finanzinstitute und sieht sie anscheinend sogar als einen wesentlichen Mitauslöser der Finanzkrise an:
"But for USD 500 billion in bad subprime debt to cause a year-long crisis in a financial market with global assets of USD 140 trillion something else had to be at work. That something else is fair value accounting - a sensible system in some respects and for some limited purposes, but not well designed for the challenges ... in the subprime meltdown ... .")
Er stellt auch fest, dass sie nicht nur Abschwünge überzeichnen, sondern auch im Aufschwung prozyklisch wirken:
" ... it is highly procyclical. In other words, it tends to exacerbate current financial trends, whatever they are. It may well be, for example, that fair value accounting was in substantial part responsible for the residential real estate bubble that collapsed--with devastating consequences--over a year ago.
We can now see how the mark-to-market effect of fair value accounting has caused a downward slide in asset values and how this decline has evolved into a dangerous downward spiral. But it is important to note that rising asset prices have the opposite--and equally procyclical--effect. As market values rise for homes, stocks, commodities, or any item that has a readily available price, more and more credit becomes available to carry these assets. As more credit is available, more money is chasing fewer assets and prices rise. From the standpoint of institutions, a rise in the value of assets is recognized in earnings under fair value principles if the assets were held for trading and recognized in the institution's capital or equity position if the assets were treated as available for sale. In both cases, the growing earnings and strengthening capital induces more borrowing and the acquisition of more assets, so the upward spiral--also known as a bubble--continues.
It is no answer to say that bubbles and collapses of all kinds are ultimately the result of the human tendency to think that trends at any given moment will continue. Of course this is true, but the object of policy design is to adopt those policies that will counteract and ameliorate what we know to be the normal failures in human activities and perceptions."
Von den drei Kategorien, in welche Finanzinstitute (und andere Firmen) nach US-amerikanischen und internationalen Bilanzierungsvorschriften ihre Wertpapiere und Kredite einzustufen haben ("held for trading", "available for sale" und "held to maturity", also Werte, die im Eigenhandel ständig ge- und verkauft werden, Werte, die die Bank zu verkaufen bereit ist, aber nicht andauernd auf dem Markt umschlägt und solche, die sie bis zur Endfälligkeit halten will), sollen seiner Meinung nach die Zwischenstufe "available for sale" nicht nach aktuellen Marktwerten, sondern nach Ertragswerten bilanziert werden. Tatsächlich hat die EU (und haben wahrscheinlich auch die zuständigen US-Aufsichten) schon eine gewisse Anpassung an die Probleme vorgenommen, als sie eine Umgruppierung von den zum Verkauf stehenden Werten in den dauerhaft gehaltenen Bestand zugelassen und damit eine (günstigere) Neubewertung nach Ertragswerten ermöglicht. Das geht Wallison aber offenbar nicht weit genug. Indes ist die von ihm vorgeschlagene bloße Änderung der Buchungsregeln insoweit nicht unproblematisch, als dadurch der aktuelle Marktwert des Wertpapier- und Kreditbestands eines Finanzunternehmens nicht mehr erkennbar wäre. Ist dieser höher als der Börsenwert, wird es Insider anlocken bzw. verschafft ihnen Vorteile. Ist er niedriger, werden Aktionäre, die neu einsteigen, übervorteilt.
Für sinnvoller halte ich es deshalb, beide Werte auszuweisen. Das vergrößert zwar den Bilanzierungsaufwand erheblich. Andererseits könnte man aber z. B. statt einer quartalsweisen Erfassung eine nur jährliche zulassen; das würde den Unternehmen wohl erhebliche Arbeit ersparen.
Auf jeden Fall ist das ein sehr lesenswerter Aufsatz zum Thema; auf der angegebenen Webseite habe ich ihn auch kommentiert (als "Cangrande").(Ergänzung Ende)
Jenseits der Frage nach der zweckmäßigen Bilanzierung von Buchgewinnen stellt sich aber die Frage (und war ja schließlich der Ausgangspunkt meiner Überlegungen) nach dem Erklärungswert meiner Hypothesen im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise 2008.
Nicht nur mir fällt ein Verständnis 'der Krise' schwer. Sehr schön hat z. B.Max Hastings im "Guardian" vom 5.1.09 unser aller Probleme formuliert: "With all these trillions, how can we keep hold of the meaning of money?We lack the slightest idea of the significance of the vast sums being pledged, lent, spent or squandered in our name".
Die Krise zu verstehen heißt zum einen, ihre Ursachen zu kennen. Die lagen, unmittelbar, wohl in der US-amerikanischen Immobilienblase. Hier kann dahingestellt bleiben, ob diese, wie ich vermutet habe, ihrerseits einen Zusammenhang mit einer sich abzeichnenden Rohstoffverknappung (insbesondere "Peak Oil" / Ölfördermaximum) hat oder nicht.
Die andere Dimension des Verstehens betrifft ein Begreifen des aktuellen Ausmaßes, d. h. eine Kenntnis jener Faktoren, welche das aktuelle Ausmaß der Buchverluste bei den Finanzinstituten bestimmen. Denn als ein wesentliches Hindernis für ein vertieftes Verständnis der Finanzkrise erscheinen mir die Diskrepanzen zwischen denjenigen Zahlen, die als Verluste aus der US-Immobilienkrise genannt werden, und dem weitaus höheren Abschreibungsbedarf, der als Folge der Finanzkrise für das Bankensystem insgesamt kolportiert wird. Diese Diskrepanz, und was an Meldungen über "Verluste aus Derivaten" durch die Medien schwirrt, erscheinen mir als das eigentlich Verwirrende an der Finanzmarktkrise, während die Immobilienblase selbst und ihre Auswirkungen auf die Kreditbücher der Finanzintermediäre nicht schwer zu begreifen sind.
Die quantitativen Dimensionen will ich, abstrakt, durch eine Erläuterung mit Hilfe fiktiver Zahlen modellhaft zu analysieren versuchen:
Angenommen, das Finanzsystem insgesamt habe (aktuelle; zukünftig können natürlich noch weitere Belastungen hinzukommen) "Buchverluste" i. H. v. 5 Billionen Währungseinheiten (WE - Dollar oder Euro ist für das Beispiel gleichgültig). (Dabei seien alle Verluste einbezogen, die nach strengen Bewertungsregeln eigentlich gebucht werden müssten, egal ob das erfolgt ist oder nicht.) Woher könnten die kommen?
Eine Billion könnte zum Beispiel von der Immobilienblase herrühren, von Hypothekenkrediten, die ganz oder teilweise nicht einziehbar sind.
Es bliebe demnach eine erklärungsbedürftige Differenz von 4 Billionen WE.
Eine weitere Billion könnte aus notleidenden Krediten an (mehr oder weniger) insolvente Firmen (u. a. US-Automobilhersteller) rühren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest teilweise abgeschrieben werden müssen, oder an Staaten in Osteuropa, welche möglicher Weise ihre Schulden ebenfalls nicht begleichen können.
Bleibt Rest von 3 Billionen WE.
Die Banken besitzen alle möglichen Finanzaktiva. Auch ältere Anleihen eigentlich solider Schuldner werden aktuell an der Börse wahrscheinlich mit Abschlägen gehandelt (weil z. B. aktuell höher verzinsliche Anleihen ausgegeben werden). Bei marktnaher Bewertung ergibt sich ein angenommener Abschreibungsbedarf von 1 Billion WE; bleiben 2 Billionen WE Wertverlust noch zu erklären.
Diese könnten einerseits durch das Auslaufen von Derivatekontrakten (konkret z. B. Credit Default Swaps) entstanden sein (wir hatten oben ja gesehen, dass diese ihren Wert bei Endfälligkeit verlieren). Zum anderen dadurch, dass sie niemand mehr ankaufen will (etwa weil die Finanzwelt der Bonität der Emittenten nicht mehr traut). Dadurch würde ihr Wert am Markt ganz oder teilweise verfallen, und zwar stärker, als er bei einem normalen Zustand des Finanzmarktes (bzw. was man früher für normal gehalten hat) verfallen wäre. Daraus ließen sich die restlichen Verluste von 2 Billionen WE erkären.
Früher oder später wären diese Verluste zwar ohnehin eingetreten. Jedoch hätte das Finanzsystem insgesamt sie durch Ausgabe von neuen Derivaten kompensiert oder sogar überkompensiert. Es wäre wahrscheinlich auch keine Katastrophe gewesen, wenn das Volumen dieser Neuausgaben sich langsam reduziert hätte (oder durch Regulierung reduziert worden wäre). Erst die Plötzlichkeit des Einbruchs macht die gigantischen Auswirkungen verständlich.
Habe ich mit diesen Überlegungen ein vertieftes Verständnis der Krise gewonnen? Mir scheint es so. Der nächste Schritt wäre es nun, daraus Konsequenzen a) für eine aktuelle 'Heilung' und b) für die zukünftige Krisenvermeidung zu ziehen.
Den Schritt b) habe ich oben mit meinen Vorschlägen für eine Bilanzierung nach dem Vorsichtsprinzip gedanklich vollzogen.
Schritt a) ist schwieriger, weil das Finanzsystem das Scheingeld bereits an reale Personen verteilt hat: als Gehalt, Bonus, Dividende, Kosten. Wer soll die Belastungen aus dem vom Finanzsystem ausgegebenen Falschgeld tragen? Werden die Belastungen uns alle in Form einer Inflationssteuer treffen, wie zu Zeiten der Kipper und Wipper im Deutschland um 1620?
Ein gewisser Mike Adams dürfte Recht haben, wenn er in einem Artikel "The Economic Fallacy of Government Intervention with Bailout Money" meint:
"... the real question about bailout money today is not whether we should “bail out the homeowners who can’t pay their mortgages,” but rather the more important question: “WHO should we confiscate money from in order to pay for those bailouts?”
New Money Creation = Wealth Confiscation. All money creation is a hidden form of wealth confiscation that steals from both the holders of U.S. dollars and holders of U.S. debt."
Es spricht in der Tat vieles dafür, derzeit sein Geld in Gold anzulegen.
Andererseits: wer kein Geld hat, kann auch keins verlieren. Das gilt aber nur auf den ersten Blick. Denn erfahrungsgemäß werden Löhne usw. weit weniger schnell angepasst, als die Preise steigen. Auch, und am Ende gerade, die Besitzlosen, so wie ich, werden also die Leidtragenden der aktuellen Inflationierungspolitik sein.
Patentrezepte für andere Wege, welche ohne Risiken und Nebenwirkungen wären, habe ich allerdings auch nicht anzubieten.
Nachtrag 24.02.09 / 28.02.09:
Vielleicht macht es Sinn, -3- Arten von Geld zu unterscheiden:
- Realgeld (= "Dauergeld") (Münzen, Geldscheine, Guthaben bei der Zentralbank)
- Kreditgeld (= "Zeitgeld") und
- "Bewertungsgeld" (= "Schwankungsgeld") (rein durch buchhalterische, wenn auch vom Markt induzierte, Zuschreibungen generierte "Werte").
Korrektur 05.02.2017: Als "Dauergeld" würde ich das Basisgeld (was ich oben "Realgeld" genannt habe) jetzt nicht mehr bezeichnen, denn auch dieses ist ja kreditgeschöpft (bis auf die Münzen, die "Willkürgeld" sind). In meinem Blott " 'Zeitgeld' und 'Dauergeld' " vom 04.02.2017 verwende ich "Zeitgeld" weiterhin für kreditgeschöpftes Geld (einschl. Basisgeld). Aber unter "Dauergeld" verstehe ich dort Willkürgeld (was die Münzen unserer Tage einschließt) und Warengeld.
Nachtrag 28.02.09:
Zum Informationsgehalt der mark-to-market-Buchführung erscheint mir eine Bemerkung des US-Wirtschaftsprofessors (und frühzeitigen Warners vor der Immobilienkrise) Robert Shiller in dem Focus-Interview "Noch fünf Jahre Rezession" vom 10.02.09:
"Ich hatte schon 1981 in einem Artikel für die American Economical Review statistisch nachgewiesen, dass die meisten Preisschwankungen der Aktienmärkte nur ein statistisches Rauschen sind. Und damit hatte ich die akademische Finanzwelt verärgert, die von der Effizienz der Märkte ausging. Aber widerlegen konnten sie meine Analyse bisher nicht."
Das bedeutet in meinen Augen auch, dass eine ständige Neubewertung nach Zeitwerten nicht unbedingt Information produziert, sondern Informationsmüll. Bzw. genauer: für die Marktteilnehmer (einen Corporate Raider z. B.) hat diese Information schon einen gewissen Wert, auch für die Firmenleitung, die aktuelle Daten benötigt um z. B. Verlustbringer zu verkaufen oder Kursgewinne zu realisieren. Aber für die Regulierung bei Finanzinstituten, wenn es um die Eigenkapitalunterlegung geht, sind solche Daten mit Zurückhaltung zu bewerten.
----------------------------
Hinsichtlich der viel gerügten Banker-Boni (vgl. aktuell z. B. den Handelsblatt-Bericht "Bonuszahlungen. Merkel geißelt Boni für Bankmanager" sowie vom 16.2.09 "Finanzkrise. Koalition will hohe Manager-Boni verbieten") ergäbe sich, falls meine Geldschöpfungshypothese zutrifft, wahrscheinlich sogar eine juristische Möglichkeit, die Auszahlung selbst von bereits fest zugesagten oder vertraglich vereinbarten Boni zu verweigern (zumindest in Fällen, wo Banken durch den Steuerzahler oder die Zentralbank gerettet werden müssen).
Falls nämlich die von der jeweiligen Bank 'verdienten' Gelder zumindest zum großen Teil 'Scheingeld' aufgrund der oben skizzierten Bilanzierungsmechanismen sein sollten, dürfte sich die Inanspruchnahme von Boni als Umwandlung von Forderungen aus 'Falschgeld' in echte Forderungen gegen die Realwirtschaft darstellen. Eine solche Umwandlung würde aber, aus meiner Sicht jedenfalls, einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB; im angelsächsischen, sehr stark an Billigkeitsüberlegungen orientierten, Recht existieren mit Sicherheit gesetzliche oder richterrechtliche Entsprechungen) darstellen; die Geltendmachung derartiger Forderungen wäre rechtsmissbräuchlich.
Nachtrag 22.09.09:
In einem Kommentar von heute im Blog von George Washington "We Are Giving Them Our Real Money to Make Up for Losses of Pseudo Money that Never Really Existed" habe ich versucht, meine Problemstellung auf Englisch zu formulieren, nachdem ich auf meinen Zeit-Leserartikel (und hier in meinem Blog sowieso) bislang keine hilfreiche Resonanz verzeichnen kann.
Nachtrag 10.03.09:
Welchen riesigen Einfluss die Bewertungsfrage auf die Finanzwirtschaft hat, wird sehr deutlich in dem (auch sonst vorzüglichen) Bericht von Michael Lewis vom April (sic!) 2009 [d. h. zur Veröffentlichung im Aprilheft vorgesehen?] in Vanity Fair über den Aufstieg und Fall des Finanzsektors in Island: "Wall Street on the Tundra." Lewis kommt an verschiedenen Stellen darauf zu sprechen, wie die Werte der "assets" durch den Handel der Banken untereinander hochgetrieben wurden, und wird in einem Falle sehr präzise:
"Virtually the entire bank’s stated profits were caused by its marking up assets it had bought at inflated prices. “The actual amount of profits that were coming from what I’d call banking was less than 10 percent,” said [der britische Banker Tony] Shearer."
Nachtrag 11.03.09
Unter der Überschrift "USA erwägen Bilanzregel-Reform" berichtet die Financial Times Deutschland heute über entsprechende Bestrebungen, aber auch Widerstände dagegen.
Nachtrag 13.03.09:
In gewisser Weise war die ganze US-(Miss-)Wirtschaft ein auf einer 'mark-to-market'-Bewertung aufgebautes Kartenhaus. Sagt jedenfalls "Dr. Doom" alias Nouriel Roubini, der in einem Blog-Eintrag "Nouriel Roubini is a Ponzi" im Financial Times Blog "FT Alphaville" wie folgt zitiert wird (auf der Roubini-eigenen Webseite "Nouriel Roubini's Global EconoMonitor - RGE" kommt man nur mit Anmeldung zu diesem Eintrag):
"... most of the “wealth” that supported the massive leverage and overspending of agents in the economy was a fake bubble-driven wealth."
Nachtrag 16.03.09
Sehr intensiv setzt sich in zahlreichen Beiträgen der "Blick Log" kritisch mit der Mark-to-market-Bewertung für Finanzpapiere auseinander, z. B. in dem Eintrag "Bernankes Schlüssel zur Erholung der Banken: FED könnte “race to the bottom” beenden" vom 12.03.09.
Diesem verdanke ich auch den Link zu einem Bericht über einen entsprechenden Vorschlag von Ben Bernanke. Auszug (meine Hervorhebung):
"Mr. Bernanke stoked a new controversy by endorsing more flexible accounting rules that would not force banks to book as many losses during an economic downturn as current rules require.
In so doing, the Fed chairman came closer than other top officials to supporting a policy known as “regulatory forbearance,” a phrase that became an epithet among policy makers after the savings and loan crisis of the early 1990s.
Although the Fed chairman did not use that phrase, he called for reducing the “pro-cyclical” aspects of current regulation — the tendency of accounting rules and capital requirements to aggravate both financial retrenchment during a slowdown and financial excesses during a boom."
Weiterer Eintrag im Blick Log z. B. "Bundesbank: Wertberichtigungen haben sich von tatsächlichen Ausfallerwartungen entfernt" vom 27.02.09.(Die Texte im Blick Log enthalten jeweils umfangreiche Verlinkungen auf andere einschlägige eigene Blotts und fremde Artikel.)
Nachtrag 02.04.09:
"Bilanrecht geändert. US-Banken dürfen sich reich rechnen" berichtet Rolf Benders heute auf der Handelsblatt-Webseite:
"Die US-Banken werden trotz anhaltender Krise bereits in den nächsten Quartalsberichten wohl deutlich bessere Ergebnisse vorweisen. Grund sind bilanzrechtliche Veränderungen. Am Donnerstag lockerten die US–Behörden die Bewertungsrichtlinien für toxische Kreditpapiere."
Es gab Lob, aber auch Kritik:
"Viele Experten kritisierten die Entscheidung. Nur weil man die Krankenakte des Patienten fälsche, werde er dadurch nicht gesund, sagte beispielsweise Howard Silverblatt von der Ratingagentur Standard & Poor's. Die Anleger bräuchten valide und ehrliche Informationen, sonst hätten die Banken noch größere Probleme als bisher, das dringend benötigte, frische Kapital aufzutreiben."
Mein Hauptproblem mit den neuen Regeln, wenn ich den Artikel richtig verstanden habe (bzw. der Autor korrekt berichtet hat) ist der Umstand, dass sie anscheinend eine Einbahnstraße darstellen. Sie sollen den Banken offenbar helfen, ihre Bilanzen jetzt in der Krise zu schönen; wenn der Finanzmarkt aber wieder "brummt", können die Banken wohl wieder nach den - ggf. überhöhten - Marktpreisen buchen. DAS wäre, wenn es zutrifft, für mich der wesentliche Kritikpunkt.
Nachtrag 24.07.09
Auf der Webseite "Baseline Scenario" berichtete James Kwak am 03.01.2009 u. d. T. "The Importance of Accounting. Or, as I thought of titling this post, SEC does something useful!" über eine Studie der US-Börsenüberwachungsbehörde SEC ("U.S. Securities and Exchange Commission") zur Wirkung der Bewertungsvorschriften auf die Finanzkrise. Deren Ergebnis fasst er so zusammen:
"fair value [mark-to-market, as will be explained] accounting did not appear to play a meaningful role in bank failures occurring during 2008. Rather, bank failures in the U.S. appeared to be the result of growing probable credit losses, concerns about asset quality, and, in certain cases, eroding lender and investor confidence."
Der "Report and Recommendations Pursuant to Section 133 of the Emergency Economic Stabilization Act of 2008: Study on Mark-To-Market Accounting" umfasst 259 Druckseiten. Kwak empfiehlt, auf jeden Fall den 10-seitigen "Executive Summary" (am Anfang) zu lesen. Das habe ich getan, schlauer fühle ich mich deswegen allerdings nicht.
Nachtrag 05.07.2014
Einen Eindruck von jenen Manipulationsmöglichkeiten, welche die Mark-to-market-Bilanzierung (hier konkret die IFRS-Rechnungslegung - International Financial Reporting Standards) bietet, gewinnt man bei der Lektüre des Interviews "Seifenblasen und Scheingewinne" vom 13.02.2009 mit dem Erfurter Professor Dr. Hans Werdich.
Nachtrag 20.09.2020
Stichworte: Forschungsprojekt, Forschungsprogramm Geldwesen
Ganz einfach wird die Sache, wenn man sie so nimmt wie sie ist: Geld wird emittiert durch eine Zentralbank, so daß nur ZB - Guthaben und Banknoten Geld sind. ALLES ANDERE, auch Buchgeld ist nur eine Forderung auf ZB - Geld bzw. ein Versprechen auf Sicht oder Termin ZB - Geld zu zahlen. Gibt es eine bargeldlose Zahlung? Nein, es scheint nur so, weil kaum einer was mit dem taggenauen Interbankenclearing zu tun hat. Können Banken Geld schaffen? Nein, sie können nur Zahlungsversprechen schaffen. Kann aus einem CDO, ABS etc. p.p. Geld entstehen? Nein. Kann daraus Einkommen entstehen? Ja, wenn der Zahlungsverpflichtete seine Zahlungsverpflichtungen inkl. Zinsen erfüllt. (Dieser gehört i.d.R. zu der Gruppe der Nichtbanken!) Aber auch dann entsteht kein Geld, das ist Einkommensumverteilung. Und das ist in dem gegenwärtigen Kapitalismus ein NO, NO Thema!
AntwortenLöschen