Sonntag, 14. Januar 2007

Auf Zeit-Seite Eins rettet Iris Radisch die Erde. Doch leider so, dass ich bald kotzen werde.


Feierabend: für die Zeit-Zeitschriften-Werberin, die beim Kaufhaus Karstadt in Mainz Kunden keilt. Eigentlich für ein Probeabonnement (3 Wochen gratis), welches ich aber nicht wollte. Beim Reingehen also habe ich sie gemieden. Beim Rausgehen hält sie mir die aktuelle Ausgabe vom 11.01.2007 unter die Nase - und jetzt nehme ich sie.
Normaler Weise funktioniert das Spiel so, dass einem die Zeitschrift wieder weggezogen wird - bis man seine Anschrift für das Probeabonnement preisgegeben hat. Aber irgendwie hatte ich instinktiv begriffen, dass die junge Dame jetzt nur noch die übrig gebliebenen Exemplare verschenken wollte. In Erwartung möglicher Blog-Katalysatoren griff ich zu.


Die Erwartung trog nicht. Als unser Zug am späten Abend [immerhin: in Mainz sind die Kaufhäuser noch so Reisendenfreundlich, dass sie um 20.00 h schließen; in Frankfurt wären wir so früh nicht weggekommen; dort haben die Kaufhäuser in der Innenstadt nunmehr die Ladenöffnungszeiten jedenfalls von Donnerstag bis Samstag abends auf 22.00 verlängert] im Bahnhof "Mainz Römisches Theater" (ehemals Mainz Südbahnhof) wieder anfuhr, war ich schon tief in die Lektüre versunken.

Bereits der Aufmacher reicht "to rile me up" [falls wen der Grund dafür interessiert: Denkmalschutz ist für mich auch ein Symptom zivilisatorischer Verkrustung; und im übrigen bei einer schrumpfenden Population ökonomisch kaum durchzuhalten]: "Rettet die alten Häuser! Mehr als hunderttausend Baudenkmale wurden in den vergangenen Jahren zerstört: Wie Deutschland sein kulturelles Erbe verspielt". (Der Feuilleton-Artikel dazu von Hanno Rauterberg ist betitelt: "Ein Land auf Abriss. Die Republik verliert ihr kulturelles Erbe. Über 100 000 Baudenkmale sind in den letzten Jahren zerstört worden. Und die Vernichtung geht weiter."
Aber während ich gerade dabei bin, auf die Palme zu klettern, fällt mein Blick auf Jens Jessens Meinungsbeitrag
"Gefährlicher Eifer. Über die Denkmal-Ideologie."
Man soll nicht Gott spielen; und selbst der Versuch, so gerecht zu sein wie dieser, ist schon frevelhaft. So gesehen, hätte ich keinen Anlass, die Denkmalschützer um des einen Gerechten Jessen willen zu verschonen. Das Problem ist nur, dass ich den (langen) Aufsatz von Rauterberg zunächst einmal lesen müsste, bevor ich beginne, dagegen zu wettern.

Doch da tritt mir, kurz und knackig, auf S. 1 Irisch Radisch's "Wir könnten auch anders" in den Weg. Leider führt kein Urlweg [potzblitz: sogar zu einem solchen Begriff sucht mir Google 116 Belegstellen raus - wenn auch wohl in anderer Bedeutung!] zu diesem Meinungsaufmacher; nur im Online-Inhaltsverzeichnis der Ausgabe Nr. 3/2007 ist er zu finden.
[Nachtrag v. 17.1.07: bin ich zu blöd oder die Suchmaschine auf der ZEIT-Seite? Jedenfalls habe ich den Artikel heute doch online gefunden, zufällig, bei der Rückverfolgung eines Surfer-Zugriffs u. d. Stichwort "weißer Flussdelfin".]

Die Entwicklungshilfe-Bilanz "Wofür das Ganze? Eine Billion Dollar hat der Norden dem Süden gegeben, um die Armut zu bekämpfen. Doch viele Arme sind arm geblieben. Von der Hilfe profitiert haben Diktatoren, Kleptokraten - und die Helfer selbst" (S. 20, leider nicht Online) versucht zwar, meine Aufmerksamkeit abzulenken und wäre sicher des Lesen wert.

Indes falte ich diese Blätter für meine werktäglichen Pendelfahrten zusammen und widme mich mit Verve dem Studium von Iris Radischs Ideen zur Rettung der Welt. Zunehmend packt mich dabei jedoch eine Art heiliger Zorn.
Meine Leser(innen) werden sich fragen: Welch giga-großes Böse verbreitet Frau Radisch denn gleich auf der ersten Seite der "Zeit"?

Ihr Aufsatz beginnt mit einem ausgestorbenen Weißen Flussdelfin. Tut mir auch leid, der Bursche: sorry Sir Dolphin.
Ein kleines Mädchen, das als nächstes auftritt, ist mir allerdings eher unsympathisch, wenn es altklug wie in amerikanischen Familien-Filmen oder auf-agitiert wie die Plakate schwingenden Anti-Atom-Bälger der schein-oppositionellen 68er Avantgarde der Bourgeoisie sagen und fragen muss:
"Der arme Weiße Flussdelfin! Warum tun wir das? Was tut ihr dagegen? Der Vater von Lorenz fährt schon lange mit Biosalatöl".
Ja, ja: "Die Kinder fragen völlig zu Recht, warum wir nichts dagegen tun. Sind wir denn genauso blöd wie der arme Flussdelfin, der sich nicht zu helfen weiß?"
Anscheinend ja, denn
"Vergnüglicher als die Salatöl-Nummer ist es angeblich sowieso mit 300 PS über die Autobahn zu brettern."
Die Essayistin verkennt nicht, dass wir
"versuchen, ... den Schaden zu begrenzen. Wir haben es inzwischen sogar zu einer gewissen Meisterschaft in der Reparatur von Zivilisationsschäden gebracht. ..."
Und sie hat natürlich Recht, wenn sie sagt
"... dass wir immer nur mehr und noch mehr haben wollen".
Dass die Zivilisation unser Glücksstreben gerne entgleisen lässt: wer wollte daran zweifeln? Aber nicht erst in [unserem] "materialistischen Zeitalter" ist "Glück ... in der Regel etwas zum Essen, zu Fahren oder zum Anfassen". Die Dimensionen haben sich ganz gewiss verschoben; aber ganz sicherlich hat (oder besser wohl: hätte) sich der ägyptische Fronsklave über ein Stückchen Fleisch in seinem Was-auch-immer-Brei genau so gefreut wie ein / eine kultivierter / kultivierte Zeit-Genosse oder Zeit-Genossin über eine Mahlzeit im Hotel Traube in Baiersbronn-Tonbach. Und wäre ebenso wie der Mensch der Moderne bereit gewesen, dafür eine Überstunde am Steinschlepp-Seil zu leisten oder sein Pyramiden-Plansoll auf andere Weise zu übererfüllen.
Warum wir dem -echten oder scheinbaren- Glück nachjagen müssen, sagt uns der Philosoph Thomas Metzinger in seinem (ansonsten in meinen Augen nicht überdurchschnittlich bemerkenswerten) Essay "Der Preis der Selbsterkenntnis" (Gehirn & Geist vom Nr. 7-8/2006, S. 46) wenn er die evolutionäre Funktion unseres Glücksstrebens zutreffend als "hedonische Tretmühle" charakterisiert.


Freilich kann man meinem Vergleich vorwerfen, dass es in dem einen Falle um grundlegende Nahrungsbedürfnisse geht, im anderen um ausgesprochenen Luxus. Iris Radisch jedenfalls meint, dass wir in unserer Epoche Glück auch mit einem deutlich geringeren Ausstoß an Kohlendioxid produzieren könnten:
"Bis heute fehlt jeder Beweis dafür, dass industriell erzeugter Luxus glücklich macht. Wir wissen nicht, ob der Mann, der am Sonntag mit seinen Kindern über die Autobahn in den hochgerüsteten Erlebnispark düst, wirklich zufriedener ist als jener, der mit den Kindern nur Verstecken im Schrebergarten spielt".

Nun ist freilich das Kleingartenparadies des Dr. Schreber bereits ein (indirektes) Produkt der Industriegesellschaft - als Reparatur gewisser höllenhafter Verhältnisse aus der Zeit der Industrialisierung gedacht. Da sind Jared Diamond (vgl. meinen Eintrag "Der größte Fehler in der Menschheitsgeschichte?") und die Primitivisten sehr viel konsequenter, wenn sie uns ihre Version des "Revenons [à peu près] à la nature" zurufen.

Frau Radisch dagegen träumt den ewigen Menschheitstraum, dass man alles zugleich haben kann: ein gemütliches Leben und (jedenfalls spricht sie sich nicht für franziskanische Armut aus), einen gewissen - vernünftigen natürlich - Wohlstand.
Es erscheint uns auf den ersten Blick auch keineswegs falsch oder unvernünftig, wenn sie meint, dass "der gefährliche spätindustrielle Wachstumswahnsinnn ... in Wahrheit selten [hält], was er verspricht: mehr Lebensqualität".
Und welches denkende Wesen könnte etwas einzuwenden gegen
"Eine intelligente Transformation des Wachstumsprinzips", oder gegen die Feststellung, dass eine solche "auch aus egoistischen Motiven geraten ist"? Es wird auch ein jeglicher Leser beifällig nicken, wenn er liest
"worauf es uns einzig ankommen sollte: ein gelingendes Leben"?
Den Weg dahin will uns die Autorin über
"Die Entdeckung der Langsamkeit [weisen], des einfachen, aber intensiven und gesunden Lebens, des Downshifting, der Muße und der Nachhaltigkeit."
Und hinführen zu einer Entwicklung, bei der wir verzichten auf
"... unsere Lebenszeit oft sinnlos verschlingende Rennerei im Hamsterrad der Hochleistungsgesellschaft"
und uns nicht länger
"... mit teurem und ödem Klimbim abspeisen lassen".
Nein, kein Verzicht wird uns hier (scheinbar) abverlangt; die Glücksmenge bleibt (mindestens) gleich, wenn wir dem Materiellen ein wenig [aber wie viel genau?] entsagen, denn:
"Es geht nicht darum, auf Glück zu verzichten. Sondern darum, falschen Glücksversprechen zu entkommen. Es geht um nichts Geringeres als um einen neuen westlichen Lifestyle". [En passant: ein "Lebensstil" hätte es auch getan!]
Wie dumm sind eigentlich die Menschen, dass sie nicht erkennen, wie einfach das alles im Grunde zu haben wäre? Denn
"Anders leben - das meint nicht, schlechter zu leben, sondern auf echte Lebensqualität zu setzen, auf sinnlosen Konsum zu verzichten, weniger vom Schlechten und mehr vom Besseren zu haben." [Hervorhebungen von mir]
Sie beschränkt sich auch nicht auf solche allgemeinen Empfehlungen, sondern regt z. B. an, dass wir "millionenfach nach Ökoautos ... verlangen" sollen, aufhören "die schädliche Rindfleischindustrie durch fleißigen Fleischverzehr weiter zu unterstützen" oder den "Billigflieger ... nach Neapel" zu buchen. Und wenn sich erst einmal
"... 80 Millionen Deutsche ab morgen an die Ökostromanbieter [halten würden], müsste sich die Stromwirtschaft etwas einfallen lassen".
Ihren Appell beschließt sie mit dem Brecht-Zitat über die Verhältnisse, die nicht so sind, und der daran anknüpfenden Behauptung
"... die Verhältnisse haben einen Herrn und Meister. Und das sind immer noch wir."

Probleme habe ich mit Frau Radischs gesellschaftlichem Ringelpietz-Appell schon (wie vielleicht auch der eine oder andere Leser) auf der konkreten Ebene.
Rindfleisch mag ich und würde (wenn ich es mir leisten könnte) auch ganz gern öfter ein saftiges Steak essen: nicht den Schrott aus hiesigen Ställen natürlich, sondern die saftigen Lendenstücke der Pampas-Bullen ... .
Und wenn alle Ökostrom verlangen würden, würden bei allen die Lichter ausgehen.
Neapel? Na gut, muss nicht sein: wenn man dort hinfährt, schaufelt man auf die eine oder andere Weise eh' nur Geld in die Taschen der Camorra. Aber Liguren, Cinque Terre: würd' ich schon gern mal wiederseh'n. Okay: kann man auch im Schlafwagen bequem hinkommen - wenn man in Frankfurt startet. Etwa von Oslo aus wär' das schon 'ne ziemliche (Tor-)Tour. (Andererseits: wenn wir erst Zeit und Muße haben, könnte man ja auch mit dem Schiff von Oslo nach Neapel kommen?) Die Bahn verursacht weniger Emissionen als das Fliegen, aber ganz unschädlich ist nicht einmal das Bahnfahren. Vor allem verbraucht es ebenfalls, wenn auch weniger, Energie. Auch da könnte man sparen, indem man seinen Sommerurlaub im Bayerischen Wald genießt. Oder ganz drauf verzichten, indem man gleich daheim hocken bleibt: Kant in Königsberg hat es uns vorgemacht, wie man gleichzeitig geographisch immobil und trotzdem geistig höchst rege bleiben kann.
Wo also setzen wir beispielsweise die Grenze zwischen einer überflüssigen Luxusreise und einem notwendigen, oder noch erlaubten oder unnötigen oder schädlichen Erholungsurlaub?

Schwingen wir uns auf vom praktischen Klein-Klein (aus dem freilich alles besteht!) in die Regionen der Abstraktion. Keine Frage, dass die Menschheit in die Sch. rennt. Auch keine Frage, dass wir die Entwicklung ein wenig retardieren könnten. Und Konsumkritik habe auch ich, und sogar häufig schon hier in diesem Blog geübt. Aber nicht in der Erwartung, damit die Erde zu retten, zumal unser Wollen nicht selten widersprüchlich ist.

Meine eigenen (meist kritischen) Bemerkungen über Konsum finden sich z. B. in den nachfolgend verlinkten Einträgen:

"Margarinefigürchen oder wer stiehlt uns den Produktivitätsfortschritt?", "KEIN "HAPPY END" FÜR DIE HAUSHALTSKASSE oder "WER STIEHLT UNS DEN PRODUKTIVITÄTSFORTSCHRITT BEIM TOILETTENPAPIER?" [Zeitungspapier täte es ja eigentlich auch ...], etwas anders in "Es muss nicht immer Frottee sein: Klassenkampf im Morgenmantel?", ausnahmsweise mit dem Lob eines (auch noch US-amerikanischen!) Produktes unter "Spar dich reich!" und, den Dienstleistungsbereich nicht zu vergessen (ja, ja Freunde, so langsam geht's an -euer- Eingemachtes!) "BALLA BALLA oder DIE PRODUKTIVITÄTSFORTSCHRITTSDIEBE DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN SAU(G)NÄPFE". Kritik am Anspruchsdenken (hier im Gesundheitswesen) übe ich in "Bauchfalte? Ich fauch' balde!".

Unter "IN FLAGRANTI" geht es weniger um weniger Konsum, als vielmehr um mehr Effizienz. Und wenn ich beklage "DIE WELT WIRD CAPECODISIERT!", dann habe ich keineswegs die eigene Abstinenz, sondern vielmehr den Über-Konsum der anderen im Visier, der mir meinen 'gerechten' (was immer das sein mag) Anteil vorenthält.
Trotzdem (oder eher deswegen?) versuche ich (manchmal) mich gegen den Kaufzwang zu immunisieren, wie bei "KASIREST oder DIE NEUE ART DES STADTBUMMELS". (In "Die Botschaft der Taube" hat es allerdings nicht geklappt.)

Ganz nahe an dem dran, was Irisch Radisch vielleicht meint, wenn sie überflüssigen Luxus kritisiert, liegen zweifellos meine Bemerkungen über "BEDARF - BEDÜRFNIS - BOTRYTIS?" oder gar in "DAS WEIHNACHTSWUNDER IN DER ÜBERDRUSSGESELLSCHAFT" und unter "Alle Jahre wieder" oute ich mich als ein Anhänger des Konsumgüterrecycling. Beim "Baden-Badener Thermalsozialismus" richten sich meine Überlegungen wiederum eher darauf, auf welche Weise ich vielleicht mehr von diesem spezifischen Gut "Planschen in Thermalmineralwässern" konsumieren könnte. "VIVA - WER? oder KULTUR-WARENUNTERSCHIEBUNG " und noch einige andere Eintragungen behandeln ebenfalls, auf die eine oder andere Weise, den oder meinen Konsum).
[Verdammt, so viel habe ich bereits über -meinen- Konsum gebloggt? Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, dass "la lingua batte, dove il dente duole"!]

Und wie hält es die Advokatin einer neuen Selbstbescheidung z. B. mit den Denkmälern (s. o.): wie vieles ist davon (nicht) sinnvoll, oder gar klimaschädlich? Wie viel Geld / Aufwand darf / soll / muss man ihrer Meinung nach (nicht) da reinstecken (um mehr Muße zu haben)? Die Standard-Antworten (vielleicht auch ihre, aber das kann ich natürlich nicht behaupten) sind in solchen Fällen vorhersehbar: 1) ist das doch ganz etwas anderes und 2) wird man uns vorrechnen, dass wir auf die eine oder andere Weise sogar etwas für die Umwelt tun, wenn wir alte Häuser restaurieren statt neue zu bauen. Und überhaupt: damals hat man doch so viel menschlicher gebaut. Freilich mit 3,40 m Deckenhöhe - nun ja ...: die Leute können in Fachwerkhäuser ziehen; die sind gesund und die Zimmerdecken deutlich niedriger! Und Lehm gibt's überall, da fallen keine weiten Transportwege an ... und so weiter.

Ich weiß sehr wohl, dass wir Menschen "(B)rats in the box" sind und derzeit an jenem Hebel herumspielen, welchen der große Demiurg [bei mir freilich nur als Verbildlichung der -natürlichen- Verhältnisse gedacht, die nun mal so sind, wie sie sind] als "ultimate lever" in unsere Playbox eingebaut hat. Doch bin ich skeptisch, was die Möglichkeit einer Lösung angeht. Nicht nur, dass ich (wie ja zweifellos auch die Autorin) kein Leben führen möchte, bei welchem "... for Schouh .. dat Jeld to knapp" ist.

Schon auf der alltäglich-praktischen Ebene kann man die Prediger des Konsumverzichts ohne Mühe in endlose Debatten darüber verwickeln, was "nötig" oder auch nur "sinnvoll" ist, und was nicht. Wie viele Opernhäusern braucht Berlin, und braucht es überhaupt diesen aristokratisch-bourgeoisen Kulturplunder, der seine Blütezeit im 19. Jahrhundert längst überlebt hat? Lieber Musical-Spielstätten? Oder eher, um menschliche Nähe und örtliche Gebundenheit zu fördern, Nachbarschafts-Jazzkeller, jeweils vielleicht synergetisch unter dem Straßen-Block-Kraftwerk eingebaut?

Auf dieser Ebene erreicht man freilich noch nicht die eigentliche Problematik, die (leider) dem Kampf gegen den (zweifellos) "gefährlichen [aber nicht erst:] spätindustriellen Wachstums-Wahnsinn" innewohnt. Mit dem Problemkern wird konfrontiert, wer z. B. auf S. 3 der gleichen "Zeit"-Ausgabe Nr. 3 aus 2007 den Artikel "Es wird heiß auf dem Planeten Erde" von Fritz Vorholz liest (das wiederum ist erfreulicher Weise online möglich).
Kein bequemes Zurücklehnen wird uns da anempfohlen, sondern z. B. eine Optimierung der Pkws: harte (Ingenieurs-)arbeit also, kein Bett-bequemes Meditieren unter spitzwegischen Dachschrägen!
Und was würde die Autorin zum "Kampf" (schon dieser Begriff verspricht Un-Gemütlichkeit!) gegen Aids und andere Krankheiten sagen, oder zur Feuerwehr, die nicht ganz schnell in die Puschen kommt, wenn's wo brennt, oder dem Rettungshubschrauber, der nicht aufsteigt, weil der Pilot der Muße frönt, oder der Armut in den Entwicklungsländern?
Wie positioniert sie sich z. B. in der Unterschichtdebatte? Arbeit für alle / mehr Konsummöglichkeiten für die Arbeitslosen? Ich selbst habe auf diesem Gebiet zwar keine eigenen Forderungen vorgetragen, habe aber von den Menschen- und Umweltfreunden intellektuelle Redlichkeit, zumindest jedoch Konsequenz, eingefordert: z. B. auf meiner Webseite im "Drusenreich vier" u. d. T. "Nur die totale Entfesselung des Kapitalismus rettet unsere Umwelt!".

Aber die meisten Leute, auch wenn sie ihre Meinungen in Medien verbreiten, verknüpfen nichts: die plappern nach, was gerade angesagt ist: Weniger Materialismus bei uns, denn "wir" haben doch längst genug. Aber natürlich: die Armen sollen (auch bei uns, besonders aber im Rest der Welt) besser leben, und gegen die Krankheiten könnte man noch viel mehr tun, und Geld für mehr Forschung müsste auch her, und nur Barbaren reißen historistische Schnörkelhäuser ab, statt sie mit hohem Kostenaufwand zu renovieren, und die Sch.-Politiker sollen sich gefälligst mal andere Ersparnisquellen einfallen lassen, anstatt als Banausen immer bei der Kultur zu kürzen ... .

Das zentrale Problem (das ich ein ganz klein wenig angeritzt habe in meinem "Drusenreich eins" u. d. T. "Der Deutsche Wald: jenseits von Gut und Böse?") streift die Essayistin bei ihrem Versuch, die Welt zu retten, nicht einmal: es ist die schiere Zahl der Menschen. Das könnte ja auch gefährlich werden; da ist man sehr schnell in einem Wir- / Die-Denken drin, Rassismus leuchtet schwefelgelb am geistigen Himmel auf ... . Also solche Klippen lieber meiden, lieber ein bisschen Bescheidenheit predigen ... die nichts nützen wird, denn die Menschen, die Gesellschaften, stehen im Wettbewerb untereinander, und die Leute aus der DDR wollten keine miefige Gemütlichkeit mehr, sondern westlichen Lebensstandard: tja, und nun wundern sie sich, wenn's mit der Liebe nicht mehr so klappt wie damals, als die Welt noch heile [und eng] war.
Eine derartige Feigheit, das Kernproblem, die schiere Zahl von Menschen nämlich, zu benennen: so etwas macht mich fuchsteufelswild. Mein Zorn richtet sich gar nicht einmal so sehr gegen den konkreten Artikel, oder gar gegen die Person Iris Radisch. Was mir ganz gehörig gegen den Strich geht ist die Tatsache, dass diese Art zu denken der (nach meiner Einschätzung zumindest) Mainstream-Debattenstand ist. Ein Meinungsschleim, der uns davor bewahrt, die Probleme, wenn wir sie schon nicht lösen können, doch wenigstens mit der größtmöglichen intellektuellen Schärfe ins Visier zu bekommen.

Was ich ihr (der Autorin wie besonders der ganzen gleich-geschalteten gesellschaftlichen Meinungssuhle) letztendlich vorwerfe, ist einerseits Dummheit: geboren nicht aus mangelnden intellektuellen Fähigkeiten, sondern aus Denkfaulheit (welche ihrerseits in hoffnungsraffender Realitätsverweigerung begründet sein mag), andererseits Hybris.
Das wird die Verfasserin ebenso wie meine mit dieser Debattenposition in zahlreichen Zeitungsartikeln usw. indoktrinierten Leser/innen vermutlich weniger verletzen, als vielmehr verwundern: sie sind es doch, die sich sorgenvolle Gedanken über die Zukunft machen, was viele andere nicht tun. Und sie wollen doch unserem Umwelt-Übermut ein Ende setzen?

Man kann die zahlreichen Probleme der Menschen unserer Zeit (die sicherlich auch die Autorin, in einem anderen Diskurszusammenhang, als Probleme darstellen würde, gegen die es anzugehen gilt) nicht ohne Wachstum lösen. Und um die dadurch generierten neuen Probleme zu lösen, braucht es weiteres Wachstum. Die Menschheit kann es sich nicht leisten, dass ihre Forscher und Erfinder sich zurück lehnen und lieber dem Müßiggang als der Arbeit frönen. Die Heizung ein wenig runterdrehen ist zwar ein kleiner Beitrag, reicht aber bei weitem nicht aus, um Energie in größerem Umfang einzusparen. Natürlich können wir Schiffsdiesel einsparen, wenn wir Muckefuck aus Zichorienwurzeln statt Kaffee aus Kolumbien trinken. Aber so weit wollen diese Leute sicherlich nicht gehen: Kaffee (Tee) ist ebenso selbstverständlich für uns wie Bananen. Also müssen wir uns beispielsweise neue Schiffsantriebe einfallen lassen. Wellenenergie nutzen: komplizierte Berechnungen, Strömungskanal, neue Materialien vielleicht wegen der besonderen Beanspruchung: viel, viel Arbeit ist das alles, und man wird diese Arbeit nicht bekommen, wenn die Gesellschaft nicht mehr in der Lage oder willens ist, den Arbeitenden ... ihren Trip nach Neapel, ihr Auto ... und viele, viele andere überflüssige Zuckerstückchen zu geben. Fleißige Forscher werden sicherlich nicht nur durch materielle Anreize angetrieben, auch nicht alle Erfinder. Dennoch geht es nicht, bzw. deutlich weniger gut, ohne. Man bleut uns immer ein, aus der Geschichte zu lernen: und vergisst dann so erschreckend schnell, was z. B. im Kommunismus geschehen ist, wo diese Anreize (weitgehend) fehlten oder jedenfalls aus der Perspektive des Individuums nicht mehr in einem wahrnehmbaren Zusammenhang mit der individuellen Leistung standen. Der Umwelt - den Emissionen wie dem Ressourcenverbrauch - ist dort das weitaus niedrigere Produktionsniveau keineswegs besser (eher schlechter) bekommen. Die Konkurrenzwirtschaft des Kapitalismus war es, die (zwar nicht ohne staatliche "Nachhilfe") die Umwelt mehr geschont und kostenträchtige Ressourcen eingespart hat (indem man z. B. die Alufolien - brauchen wir zwar eigentlich auch nicht: früher kam man schließlich auch ohne aus! - immer dünner auswalzte). Man bekommt nicht einzelne nötige (bzw. für nötig gehaltene) Spitzenleistungen in einer ganz allgemein entspannten, selbstzufriedenen Gesellschaft. Dem "Wahn" des "besser, höher, mehr, weiter ..." zu entsagen heißt eben auch, die Gesellschaft insgesamt ab-zuspannen. Aber der Weg vom konkurrenzgetriebenen Komparativ zum selbstzufriedenen Positiv ist kurz, und von da kann man ganz schnell in einem gesellschaftlichen Dormativ rutschen.

Was aber spannt (spornt) unsere Gesellschaft (an)? Gestehen wir es uns ein: es ist ganz wesentlich auch der Konsumwahn. Es gibt nun einmal keine Münzen ohne (mindestens) zwei Seiten. Und leider ist, was die Umwelt, und auch die Menschen selbst angeht, die Kehrseite der Schokoladenseite in aller Regel die Sch'e-Seite. Leben ohne Risiken, vor allem aber ohne zahlreiche Nebenwirkungen, gibt es leider nicht. Und je entwickelter das Leben, desto zahlreicher die Nebenwirkungen.
Wer davor die Augen verschließt, weil es doch so hässlich und schädlich ist, frönt der Realitätsverweigerung. Und was uns hindert, die Wirklichkeit zu erkennen, kann durchaus als eine Form von Dummheit eingestuft werden.

Wo aber finde ich Hybris in einem Artikel, der doch gerade (wenn auch nicht ausdrücklich) unsere Hybris im Umgang mit der Natur beklagt?

Sie haben es vermutlich nicht gemerkt, gelle, worin die ungeheure Hybris in der Argumentation des hier besprochenen Umwelt-Debattenbeitrages liegt? Und auch nicht die feine Ironie, mit der sich die Kombination von Sätzen selbst widerlegt? Ausgerechnet Bertolt Brecht soll die Macht des Menschen über seine (gesellschaftlichen) Verhältnisse bezeugen: ein Kommunist, der als solcher gescheitert ist mit seinem Glauben, dass wir "die Verhältnisse" von Grund auf ändern könnten! Das ist fast so viel sagend wie die Idee der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg, eine Verteidigungslinie in Italien als "Gotenstellung" zu bezeichnen!

Dabei muss man im Vergleich zu dem, was Irisch Radisch erreichen will, die Zielsetzung des Kommunismus sogar noch bescheiden nennen. Dies mag meinen Lesern als kühne Behauptung erscheinen, denn die Essayistin will ja "nur", dass wir ein wenig bescheidener werden. Nur dass der ganze Laden zusammenbricht, wenn wir anfangen, z. B. auf den Kauf von Autos (die selbst bei großzügigen Maßstäben sicherlich die Hälfte der Autofahrer nicht "braucht") zu verzichten. Wenn wir alle anfangen, "nur" dieses und jenes nicht mehr zu kaufen - krachen wir mit Karacho in eine Wirtschaftskrise, aus der uns dann Diese-und-Jene, schwarz, rot, oder braun gewandete scheinbare Lichtgestalt herausführen wird. Aber darüber haben andere nachzudenken: Iris Radisch hat ihren Beitrag zur Rettung der Welt geleistet; der Rest ist Sache der Politik, der Wirtschaft ... . Ja, auch das ist wieder so eine bequeme Position, nicht nur der Autorin, sondern in der einen oder anderen Weise von uns allen. Wir wollen ja "nur" ...., wir wollen ja "das Gute", "das Richtige": Risiken und Nebenwirkungen? Dafür sind andere zuständig. Und unter den anderen wird sich ganz gewiss der der eine oder die andere finden, der sich drum kümmert. Nur möglicher Weise nicht so, wie wir das stillschweigend, unbewusst gar, voraussetzen: schiedlich-friedlich wie jetzt (auch wenn wir über unsere Politiker schimpfen: wir haben schon schlechtere gehabt!). [Freilich: wenn wir in eine echte Umweltmisere geraten, wird das Gleiche passieren: so oder so wird es in nicht allzu ferner Zeit mit unserer relativen ökonomischen und in der Konsequenz dann auch ganz schnell mit der politischen Gemütlichkeit zu Ende gehen.]

Dennoch ist es kein Wunder, dass keine Warnlampen bei uns angehen, wenn wir Gedanken (Topoi) wie die hier besprochenen und kritisierten lesen: wir alle sind konditioniert, Artikel im Stil von "Wir könnten auch anders" gedankenlos zu konsumieren. Das geht uns runter wie Öl, egal, ob es in der Zeitung steht oder z. B. von einer Kanzel verkündet wird. Kardinal Lehmann (den wir, ebenfalls im Kaufhaus Karstadt in Mainz, aber bevor ich meinen Blog-Kat geschenkt bekam, beim Einkaufen gesehen hatten), hätte wahrscheinlich nichts anderes gesagt (außer natürlich, dass er den Menschen berufsbedingt Gottvertrauen empfohlen hätte), wenn wir ihn angehauen und gefragt hätten: "Herr Kardinal, was meinen Sie, wie wir Menschen unsere Umwelt retten können"?

Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass wir "Herren und Meister" unserer eigenen Verhältnisse sind. Oder genauer: wir sind es nicht in derjenigen Dimension, um die es der Autorin geht. Wir sind nicht in der Lage, die Gesellschaft insgesamt quasi von außen rational umzukrempeln. Wir können Stützen einreißen, das Gebälk verfaulen lassen: aber uns jetzt an den Tisch setzen und sagen: das, dieses und jenes ist sinnlos, das produzieren wir nicht mehr, das wird nicht mehr angeboten? Machen kann man auch das, aber den ganzen Rattenschwanz der Folgen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Kettenreaktionen: die können wir schon deshalb nicht beherrschen, weil wir sie nicht vorhersehen können.

Die erschütterndste (und extremst situierte) Darstellung eines menschlichen Versuchs, Herr und Meister seines eigenen Schicksals zu werden, ist mir beim Durchblättern des Buches "Ist das ein Mensch?" von Primo Levi begegnet. Levi berichtet darin u. a. über einen anderen jüdischen Lagerinsassen in Auschwitz, der vor der Ausgrenzung der Juden ein Fabrikant oder hochrangiger Manager (genau erinnere ich mich nicht mehr, habe den Text auch nur überflogen: ist aber dornig in mir hängen geblieben) in der Chemieindustrie war. Dieser versuchte, sich durch äußerste Selbstdisziplin (u. a. sogar Tausch von Brot mit Mitgefangenen, um dafür an Seife zu kommen!) sich in dem Gefangenen-Gewimmel bemerkbar zu machen und in der Häftlings-Hierarchie hochzuarbeiten. Seinem Handlungsspielraum waren extremste Grenzen gezogen, aber mehr oder weniger eng sind die Grenzen für uns alle.
Uns eben mal so zu Herren über die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt aufzuschwingen? Im Kollektiv? Wir können froh sein, wenn wir überhaupt dann und wann die Nase vom Schleifstein hoch kriegen!

Nein, andererseits ist es doch kein Ammenmärchen, dass wir "Herr und Meister unser Verhältnisse" sind, oder "Unseres Glückes Schmied": es ist wahr. Nur eben nicht auf jener Ebene, welche unsere Weltretterin anvisiert.
Es ist keine absolute, sondern eine außerordentlich relative Wahrheit, die lediglich innerhalb ganz, ganz enger Schranken, die auch noch ständig schwanken, gilt.
Es handelt sich auch gar nicht um eine "deskriptive Wahrheit", sondern vielmehr um eine "motivationale Wahrheit". Es ist die Peitsche, die uns als Sklaven letztendlich der Evolution vorantreibt. Akzeleration, eine ständig sich beschleunigende Entwicklung, ist keine Erfindung der Menschen oder gar erst der Industriegesellschaft (oder auch nur der abendländischen Zivilisation). Es ist das Prinzip der Evolution selbst, in welchem wir, als Teil der Natur (von den verschiedenen möglichen Begriffsinhalten hier den umfassendsten gedacht) zwar mit Bewusstsein begabte Getrieberädchen sind - aber dennoch nichts als Rädchen in irgend einem riesigen Was-oder-Wie-auch-immer-Uhrwerk, dem unser Glück(lichsein) herzlich gleichgültig ist. Glück ist nichts als eine Karotte im großen Hasenrennen der Evolution des Lebens zum Stadium des Bewusstseins - "für" was auch immer, vielleicht gar "für" gar nichts? Glück wäre dann einfach ein Raketenantrieb, welche die Evolution dem Leben in den Hintern gesteckt hat!

Wenn wir erst einmal anfangen, uns zurück zu lehnen, werden wir (die Menschheit respektive die jeweilige Lehnsessel-Gesellschaft) eines Tages da enden, wo Carlo Levi den örtlichen Arzt in Aliano sozial-psychologisch verortete, welchem in der Öde der Provinz alles Wissen abhanden gekommen war, das er sich einst auf der Universität in Neapel angeeignet hatte: "In un grande naufraggio di noia" nämlich, einem großen Schiffbruch der Langeweile [ein Zitat, das ich schon seit 10 oder 20 Jahren mit mir herumschleppe, und hier nun endlich in den Hafen bringen kann ;-)]. Der einzelne kann mal etwas kürzer treten, es dann und wann etwas ruhiger angehen lassen. Als Rezept für die Gesellschaft taugt es nicht: es ist der Anfang einer schiefen Ebene, auf der Gruppen, Völker, Länder, Zivilisationen oder auch die ganze Menschheit sehr schnell heruntersausen würden (und in der Vergangenheit bereits heruntergeschlittert sind).

Gegen das Ende hin kehre ich noch einmal zurück zum Anfang - nicht meines Blog-Eintrages, sondern des Artikels von Iris Radisch: zum Bio-Salatöl nämlich. Insoweit mag statt (weiterer) langatmiger Ausführungen ein Hinweis auf meine Eintragung vom 15.04.06 "Hungerskandal in Wuppertal: Porsche-Fahrer frisst Rentner-Oma die Polenta vom Teller!" genügen.
Und die Ergänzung: wenn wir die Bio-Kraftstoffe auch noch mit 'Bio-Methoden' produzieren, wollen, kommt noch weniger Polenta auf den Teller.
Auch hier also redet die Essayistin so daher, ohne im Geringsten an die Folgen zu denken. Ach, Frederic Vester: du hast, fürchte ich, umsonst gelebt und uns zu "vernetztem Denken" aufgefordert! [Nachtrag 21.01.08: Zum Thema -fehlendes- "vernetztes Denken" vgl. mittlerweile auch meine Blotts "terreur des sommes" und "Kopf oder Zahl? Oder akephal?".]


Was, Freunde, ist also meiner Weisheit letzter Schluss?
Dass man, vor Inbetriebnahme des Federkiels, die grauen Zellen einschalten muss!

Das rettet zwar auch nicht unseren Globus (bzw. die Menschheit), doch gehen wir auf diese Weise vielleicht etwas aufrechter unter.
Vielleicht emigriert aber auch die Menschheit, zumindest in Gestalt einiger (weniger) Repräsentanten, auf diese Weise hoch erhobenen Hauptes zum nächsten ressourcenstrotzenden Planeten?

Auf jeden Fall wurden wir, Frau Radisch, nicht in die Welt geworfen, um uns im nächsten Schrebergarten in die Hängematte zu werfen!

Drum hätt' ich die dringende Bitte:
Solche Artikel nur in der "Brigitte"!
Dagegen auf Seite eins in der "Zeit"
Tut mir sowas für Deutschland PISAisch leid!

Nachtrag vom 06.12.2007
Heute führte mich der Nikolaus zu den (nicht allzu zahlreichen) Leserbriefen, welche dem sonnigen Optimismus der Frau Radisch ebenfalls größtenteils sehr distanziert gegenüberstehen.


Nachtrag vom 17.01.07
Bis ich den o. a. Essay von ihr las, war Frau Radisch mir völlig unbekannt. Wenn ich jetzt z. B. den Artikel "Der Preis des Glücks" in der DIE ZEIT 16.03.2006 Nr.12 lese: der ist nicht schlecht!
"Junge Frauen bekommen überall zu hören: Kriegt Kinder, und zwar schnell! Über die Folgen werden sie getäuscht. Ein paar unbequeme Wahrheiten" heißt es im Untertitel, und der Text ist eine überzeugende Darstellung der Situation berufstätiger Mütter.
Das freilich ließe sich verknüpfen mit "Wir können auch anders": die Mütter könnten aufhören zu arbeiten (meinetwegen alternativ auch die Väter). Früher konnte ein Alleinverdiener seine Familie (wenn auch in den meisten Fällen wohl nicht besonders gut) ernähren: auch heute ginge das, nur ist das Erwartungsniveau sehr viel höher, sind die Konsumlockungen sehr viel mächtiger. Die logische Folge ihres Klima-Hilfs-Essay wäre die Rückkehr zum Alleinverdiener; das wird in der Regel der Mann sein. Die Frau wieder als Heimchen am Herd - wird ihr auch nicht behagen. Kann man verstehen; aber was sie (und wohl auch sonst niemand) nicht versteht: die ganze Emanzipation ist, auch wenn sie von den Betroffenen zweifellos positiv empfunden wird, nicht eigentlich "dazu" da, um die Frauen (oder sonstige zu Emanzipierende) glücklich zu machen. Ihre gesellschaftliche Ratio, ihre Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung, ist es zweifellos, das Humankapitalpotential optimal auszuschöpfen: die Produktion zu steigern - und den Wert des Sachkapitals.
Das ist keine Verschwörung, da dreht niemand bewusst dran: das ist der für unsere Zivilisation natürliche Lauf der Dinge. (S. a. "Von der Atombombe zur Frauenemanzipation ...".)

Da würde zweifellos sie ihrerseits fuchsteufelswild werden, wenn man fordern würde: Frauen zurück zu Küche (und eventuell Kind). Ich könnte das verstehen; nicht verstehen kann ich allerdings, dass jemand sich hinstellt und behauptet, die Menschheit wäre Herr ihres eigenen Schicksals, und in diesem Zusammenhang Konsumbescheidung predigt - ohne sich im Geringsten Gedanken darüber zu machen, was das dann in anderen Zusammenhängen bedeutet.

Nachtrag vom 05.04.2008
Iris Radisch lässt nicht locker: "Vom Glück der Erleuchtung" betitelt sie ihr Wort zu Weihnachten (Zeit vom 19.12.2007). Auch hier sind die Leser skeptisch. Köstlich ist aber der Kommentar des Kabarettisten Matthias Tretter:
"... Ich hab eine Menge Feuilleton gelesen .... und was soll ich sagen - es war nicht ausreichend Glühwein vorhanden, um alles wieder zu vergessen. ..... Man sollte in diesen Tagen keinesfalls den Kulturteil aufschlagen, ohne Vorsorge zu tragen, dass Alkoholika in amnesiesicheren Mengen bereit stehen. ..... Was Weihnachten ... wirklich unerträglich macht, sind die Feuilletonisten ... . Jedes Jahr leuchtet die vierte Kerze auf dem Kranz dem deutschen Kulturjournalisten den Weg in die Konsumkritik. Allen voran natürlich die ZEIT. ... Das Zentralorgan der Geistespullunder dieser Republik. Und dort hat jetzt Iris Radisch, die Literaturchefin der ZEIT ... anlässlich des Christfestes etwas ganz Unerhörtes aufgedeckt: Konsum allein macht nicht glücklich. ... Einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz ..... haben wir seit 200 Jahren. Hätte er ein tierisches Gesicht, würde er Ruhe geben, wenn genug zu Fressen da ist. Und das muss so sein. Kapitalismus basiert allein auf Gier. Und Demokratie basiert auf Kapitalismus. ... Verzicht ... wäre undemokratisch. Wenn alle Verzicht üben, bricht der Markt zusammen. Und damit das demokratische System. Wundern Sie sich, dass der Dalai Lama keine Demokratie auf die Beine bringt? Nein, was wir brauchen, ist ein Mensch mit kapitalistischem Antlitz. Einer, der 'Ja' sagt zum absoluten Konsum." [Hervorhebungen von mir]


Nachtrag 25.05.2009
Bewusst oder unbewusst hat Wolfgang Uchatius in einem langen Essay in der ZEIT vom 20.05.2009 den Titel von Iris Radisch wieder aufgegriffen: "Kapitalismus. Wir könnten auch anders". Das ist ein ganz anderes Kaliber als das süßliche Gartenlauben-Gewäsch der Literaturwissenschaftlern über Kinder und Flussdelphine. Der gemeinsame Nenner beider Artikel ist der (zutreffende) Hinweis, dass das wirtschaftliche Wachstum die Menschheit in eine Sackgasse führt. Uchatius wird aber zum einen sehr viel konkreter (Grundeinkommen, Schwundgeld oder ein anderes Geldsystem - ich bin da skeptisch, aber immerhin), zum anderen weiß er sehr wohl, dass es keine Blaupause für ein neues Wirtschaftssystem und keine Garantie dafür gibt, dass eine freiwillige Abkehr der Menschheit vom Wachstumszwang funktionieren wird.
Auch Uchatius lotet die möglichen Schwierigkeiten nicht in ihrer ganze Tiefe aus (z. B. was wird aus dem wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt in einer 'genügsamen' Gesellschaft?), aber wenigstens die Oberflächenprobleme, die eine Konsumeinschränkung zur Folge haben würde - Verlust von Arbeitsplätzen usw. - stellt er dar, die für Iris Radisch schlicht nicht zu existieren scheinen.
Im Gegensatz zum Radisch-Gerede kann man den Uchatius-Essay als Diskussionsgrundlage oder Ausgangspunkt einer Debatte schon eher ernst nehmen.


Textstand vom 17.11.2023

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