Montag, 4. Mai 2009

Hurra; hurra hurra - die Schundliteratur ist da: "Italien wie es wirklich ist" (Gustav Nicolai, 2. Aufl. 1835)


Google wird mein Lob ebenso gleichgültig sein wie mein Tadel: die interessieren sich lediglich für Lohn der klingenden Art.
Dennoch gebietet es die Fairness, der Firma zu danken. Denn endlich stellt sie der interessierten Welt, und damit auch dem möglicherweise einzig wirklich Interessierten, ein Buch zur Verfügung, dass dieser schon lange lesen wollte: "Italien wie es wirklich ist" (Gustav Nicolai, 2. Aufl. 1835). (Der vollständige Titel ist von geradezu barocker Länge - s. u. bei "Terror im Zitronenhain".)

Viele Italieneisende hatten wohl das Gefühl, ihren Lesern lediglich ihre echten oder echoartigen Kunstempfindungen kommunizieren zu dürfen.
Und auf jene, welche es wagten, Italien mal ganz anders, nämlich konsequent negativ, zu sehen, haben sie so lange eingeprügelt, bis deren Bücher der Vergessenheit anheim fielen. Seine 'Widerleger' (z. B. August Gottlob Eberhard, aber es gab noch mehr Gegen-Schriften) haben es zu Wikipedia-Würden gebracht, unser braver Gustav dagegen nicht!

Ich selbst bin durchaus italophil (oder war es zumindest, bevor die Italiener mehrheitlich Berlusconi und seine Bündnispartner gewählt haben). Dennoch finde ich es reizvoll, manchmal ein Gegengift zum erhabenen klassischen Italienblick zu schlucken. Otto Nicolai ist insoweit wahrscheinlich optimal; derzeit drucke ich es nach und nach aus und lese es (liest sich recht flüssig).

Dass er Italien verlästert hat, nehmen ihm viele noch heute übel und ziehen zornig gegen Nicolai vom Leder, so z. B. Gunter E. Grimm in: "Bäume, Himmel, Wasser - ist nicht alles wie gemalt? Italien, das Land deutscher Sehnsucht" (in: Goethezeitportal). (Hervorhebungen hier und in allen weiteren Zitaten jeweils von mir):
"Viele Reisende sind von der Vergleichungssucht gepackt. Sie vermissen vieles, empfinden das Trennende stärker als das Verbindende, vermögen nicht, das Andersartige als reinen Eindruck auf sich wirken zu lassen. Der eine nimmt nur die Lichtseiten war, das angenehme Klima, das Licht und die Wärme, die Schönheiten der Natur und die Höhepunkte der Kunst; der andere sieht nur die Schattenseiten. Wer sich mit der Geschichte dieser Italienklischees beschäftigt, kennt die Litanei, die der preußische Divisionsauditeur (weitere Lexikon-Einträge s. a. bei Pierer, ca. 1850 und Adelung, ca. 1790) Gustav Nicolai in seinem berüchtigten Buch „Italien, wie es wirklich ist“ (1834) [= Erstauflage] anstimmt. Nicolai, eine lederne Beamtenseele, hatte das Buch bewußt als realistische Kontrafaktur zu Goethes verführerischem Italienbild angelegt und den „Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden“ ausdrücklich als „Warnungsstimme für Alle, welche sich dahin sehnen“, bezeichnet.
Italien, das Inbild der Heimtücke, des Lasters und der Verführung – Deutschland, die Verkörperung des Biedersinns, der Tugend und der Reinheit: zu diesem Gegensatzklischee verstieg sich nicht nur der Pedant aus Berlin; die Antinomien finden sich in vielen Berichten deutscher Italienreisender, wenn auch differenziert und mit freundlicheren Augen gesehen
."

In einem Aufsatz "Terror im Zitronenhain" schreibt ein Carsten Hermann am 17.06.2008 über das Buch von Gustav Nicolai:
"Unter dem provozierenden Titel »Italien, wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für Alle, welche sich dahin sehnen« verfaßte der Berliner Gerichtsassessor Gustav Nicolai 1833 eine zweibändige Reisebeschreibung, in der das herkömmliche deutsche Bild vom Wunderland Italien auf den Kopf gestellt wird. Nicolai findet Italien entsetzlich. Die Herbergen sind schlecht, die Natur ist öde, die Altertümer lohnen das Anschauen nicht. Im übrigen ist fast immer schlechtes Wetter. Kein Wunder, daß er auch mit den Italienern hart ins Gericht geht: Das ganze Volk ist eine einzige Bande von Beutelschneidern, Dieben und Räubern. Ein »wirklicher« Räuber fällt da kaum noch ins Gewicht."
Der Mann war insofern −− vielleicht mit etwas mehr Recht, so wie er manche Wirtshäuser beschreibt −− ein Vorläufer des Rolf−Dieter Brinkmann, der seinerseits 1972 nach Kräften bemüht war, seinem Aufenthalt in der Villa Massimo möglichst wenig abzugewinnen, wie in "Rom, Blicke" nachzulesen ist.
"
[Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich mit diesem bösen, auch sonst ziemlich schwierigen, Brinkmann weder verwandt noch verschwägert bin! Hier übrigens ein längerer Aufsatz von Dr. Wolfgang Lange, Privatdozent (seinerzeit jedenfalls) an der Uni Bielefeld, über Rolf Dieter Brinkmann in Rom.]

In einem "Forum Deutsch lehren" auf der Webseite "Passwort Deutsch" wurde anno 2004 mal eine Diskussion geführt, bei der ein Quäntchen an Informationen über Gustav Nicolai heraus kam.

Eine Bibliographie deutscher Italien-Reisen für den Zeitraum 1770 - 1870 findet sich auf einer Webseite, die der Dissertation bzw. dem Buch "Reisen in das befremdliche Pompeji" gewidmet ist. [Ob die Bibliographie umfassend ist, oder lediglich Reisebeschreibungen aufführt, in denen Pompeji erwähnt ist, weiß ich nicht.]

Albin Johann Baptist von Meddlhammer war einer von denjenigen, welche ihr Italienbild gegen Nicolai mit der Feder verteidigten. Dazu erfahren wir hier:
" 'Schreiben eines deutschen Floh's" lautete ... der Titel einer beißenden Satire auf Nicolais Buch, die 1836 erschien und ihrem Autor, der sich "Adamson" nannte, acht Wochen Gefängnis einbrachte. Dieser Autor war Albin von Meddlhammer, ein steirischer Schauspieler und Theaterschriftsteller, der mehrere Jahre in Italien gelebt hatte. Er hatte einige Jahre vor Nicolai das "Leben und Treiben des Italieners" (unter dem Pseudonym "Alexander") veröffentlicht. Auch er kritisiert (allzu) vieles an diesem Land und seiner Bevölkerung, deren "Erlustigungen [...] anderswo für Landplagen gelten dürften", doch ist dieser "Xenophobe's Guide" zu skurril-witzig, um jemanden - außer vielleicht die besonders gnadenlos karikierte katholische Geistlichkeit - ernsthaft beleidigen zu können."
[Der vollständige Titel von Meddlhammers Streitschrift lautet: "Schreiben eines deutschen Floh's welcher mit Herrn Gustav Nicolai die Schnellfahrt durch die hesperischen Gefilde gemacht hat, an seine Freundin, eine Wanze in Italien: Nebst e. Anh. e. Schreiben d. Akad. d. Wiss. zu Flohaburgo enth.", s. a. unten bei "Walter"]
Ergänzung 14.12.2009: Dieses kleine Büchlein (48 S.) ist jetzt ebenfalls online; die Bayerische Staatsbibliothek hat es in Kooperation mit Google (oder umgekehrt) digitalisiert. Natürlich wurde auch hier die Frakturschrift verwendet, aber immerhin ist der Text lesbar und nicht durch Stockflecken extrem verhunzt, wie stellenweise der Nicolai Text aus der New Yorker Stadtbücherei.

In einem Aufsatz "Herrmann Allmers und Ernst Haeckel in Italien - die verstörende Erfahrung der Fremdheit im 19.Jahrhundert" schreibt ein Ulrich Walter ("Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften Universität Bremen"):
"Haeckel ist nicht der erste und nicht der einzige, der ablehnend auf Italien und Italiener reagiert. Schon 1785 setzt der Aufklärer Johann Wilhelm Archenholtz Italien gegenüber England herab. Ihm geht es in seiner Kritik an den politischen Zuständen Italiens aber implizit um Deutschland, das direkt zu kritisieren in jener Zeit allzu gefährlich war. Gustav Nicolai polemisiert 1834 in seiner Schrift: Italien wie es wirklich ist gegen italienische Misslichkeiten beim Zoll, in Gasthäusern mit Ungeziefer, schlechten Straßen und der Gefahr, Räubern in die Hände zu fallen. Seine philiströs-bornierte Haltung weckt allgemein Widerspruch und Spott. 1836 persifliert ein Autor [Meddlhammer - s. o.], der sich Adamssohn nennt, die Nicolaische Schrift mit dem: Schreiben eines deutschen Floh’s welcher mit Herrn Gustav Nicolai die Schnellfahrt durch die hesperischen Gefilde gemacht hat, an seine Freundin eine Wanze in Italien. Im Laufe des 19. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen, die zwar nach wie vor italienische Kunst, Natur und Landschaft preisen, daneben aber verstärkt Kritik an den Italienern üben und mit einer Mischung von Unverständnis und Verachtung auf ihre Lebensweise herabschauen. Friedrich Theodor Vischer rühmt auf seiner Italienreise 1839/40 die Schönheit der Italiener ("[...] die deutsche Kartoffelnase verschwindet"), ist aber in Venedig schnell fertig mit seinem Urteil über ihren Charakter: "Die Menschen sind, wie sich von einer Hafenstadt nicht anders erwarten lässt, verdorben und betrügerisch". Carl Justi, der Biograph Winckelmanns, gibt in einem Brief an seinen Bruder aus Neapel eine Beschreibung der Italiener, die mit negativen Attributen gespickt ist: Er nennt sie feige, unzuverlässig, treulos, egoistisch und misstrauisch."


Einen ganz anderen Aspekt aus dem Leben und Wirken von "Alexander Gustav Wilhelm Nicolai" nehmen wir aus dem "Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Kulturwissenschaft", wohl von der Humboldt-Universität Berlin, aus dem Jahr 2009 (S. 46, Nr. 53 337) mit:
"Kulturelle Erfahrung und ästhetisches Verhalten 1814-1871.
Alexander Gustav Wilhelm Nicolai zählt zu der großen Zahl der heute vergessenen Autoren des 19. Jahrhunderts. Er war mit den bekannten Musikern Friedrich Wilhelm Berner, Adolph Bernhard Marx, Ernst Raupach, Karl August von Lichtenstein und insbesondere mit Gaspare Spontini befreundet. Sein eigenes musikalisches Schaffen fiel in die Blütezeit der Berliner Oper. König Friedrich Wilhelm III. zeichnete ihn mehrfach für seine Verdienste um Kunst und Wissenschaft aus.
Seine Reisebeschreibungen und Kunstromane stehen im Zentrum unseres Interesses. Mit dem vielgelesenen und befehdeten Werk "Italien, wie es wirklich ist" (1834) bricht Nicolai mit der Italiensehnsucht seiner Zeit. Aus seinen Novellen geht eine für die Biedermeierzeit und den Vormärz bedeutsame Musikästhetik hervor. Zudem versucht Nicolai in seinen Texten die gesellschaftliche Position des modernen Musikers zu bestimmen.
"


Bei den Wikimedia Commons ist sogar ein Bild des bösen Buben gespeichert.


Anmerkungen zu einigen interessanten (älteren) Reiseberichten aus Italien (quasi eine - nach subjektiven Kriterien erstellte - kommentierte Bibliographie) finden sich auf meiner Webseite "Italienreich: Bibliothek" (auch: Leseliste) unter dem Motto: "Das Land der Sehnsucht mit der Lesebrille suchen".


Nachtrag 05.05.2009

Wenn wir auf der Webseite zeno.org nach Gustav Nicolai suchen, finden wir in verschiedenen zeitgenössischen oder jedenfalls älteren Büchern noch verschiedene Infos über ihn:

Otto Jahn berichtet in einer Biographie (1856 - 1859) über Wolfgang Amadeus Mozart:
"Uebrigens hat auch das Gerede von Mozarts Vergiftung den Stoff zu einer traurigen Kunstnovelle »der Musikfeind« von Gustav Nicolai (Arabesken für Musikfreunde I. Lpz. 1825) hergeben müssen." [Hier geht es natürlich um die Legende, wonach der Komponist Antonio Salieri Mozart vergiftet habe.]

Und Friedrich Wilhelm Gubitz erklärt in seinem Buch "Bilder aus Romantik und Biedermeier" (1868 / 1869) in dem Kapitel "Spontini – Congreve – Gutenberg" unseren Autor Nicolai gar für unzurechnungsfähig:
"Ehe ich von dem stets mit Sorge für Unruhe beschäftigten Tondichter [Gaspare Spontini] scheide, ist nochmals einzuschieben Gustav Nicolai, der durch unbedingte Lobdienerei den wenig deutsch verstehenden Spontini sehr schadete. Im Jahre 1834 schickte jener in die Lesewelt seine Schilderung: »Italien wie es ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden, als Warnung für alle, welche sich dahin sehnen.« Es ist ein Machwerk voller Übertreibung, in den Zeitschriften dem Auszulachenden angereiht; eine ernste Widerlegung erschien im »Gesellschafter«, dann ein nirgends zureichender Widerspruch vom Verfasser. Überhaupt wurde er befehdet ringsum, mit Recht, aber auch mit überschwenglicher Spottlust, besonders durch Wolfgang Menzel in seinem »Literaturblatt«. Nach meiner, durch mancherlei unterstützten Überzeugung war dieser Nicolai hirnskrank; dies verschlimmerte sich nun bei dem ihn völlig beherrschenden, von ihm wiederholt ausgesprochenen Gedanken: »Alles ist persönliche Feindschaft!« – Mir war er unzurechnungsfähig, was ich einschalte, um weiteres leicht einsichtlich werden zu lassen."
[Allerdings erscheint mir wiederum der Text von Gubitz einigermaßen wirr.]


Nachtrag 13.05.09

Hier eine kleine Schülerarbeit über das Reisebuch von Gustav Nicolai.


Nachtrag 15.05.09

Gänzlich war mir bislang entgangen, dass noch ein 2. Teil ("Theil" schrieb man damals) des Werkes online ist. Im ersten Teil bin ich schon ziemlich tief drin, aber zusammen mit dem 2. Teil ist das Werk recht umfangreich. Der Druck ist natürlich in Frakturschrift. Die zu lesen ist zwar für mich kein Problem (in der Volksschule war zumindest unser Religionsbuch in dieser Schriftart gedruckt, und damals war ich ein eifriger Leser solcher Sachen). Nur sind eine Reihe von Seiten anscheinend vom Säurefraß (oder von Stockflecken) beschädigt; Buchstaben und ganze Worte, oder sogar Wortfolgen, erscheinen jedenfalls in der digitalisierten Version als schwarze Klumpen. Das macht eine Lektüre auf einer Reihe von Seiten denn doch recht mühsam; bislang (momentan bin ich etwa bei der Seite 200 im ersten Band angelangt) konnte ich allerdings fast alle Worte entziffern.

[Einschub: Bei der Suche nach Säurefraß und Stockflecken stoße ich auf die Aktion "Buch in Not?" der Landesbibliothek Oldenburg. "Vom Verfall bedrohte Kostbarkeiten warten auf Restaurierung" lesen wir dort und den Appell
"Helfen Sie mit bei der Rettung unseres kulturellen Erbes!
Seit 2004 unterstützen Privatpersonen, Vereine und Firmen die Aktion "Buch in Not" der Landesbibliothek Oldenburg. Sie werden Buchpaten und übernehmen die Kosten für die Restaurierung eines besonders gefährdeten Werkes oder beteiligen sich mit einer Spende daran. Werden auch Sie Buchpate.
"
Was der Spaß für jedes einzelne Buch schätzungsweise kostet, erfährt man auf der Seite "Restaurierungskosten".
Die sind happig. Grundsätzlich ist es natürlich begrüßenswert, wenn sich eine Bibliothek um die Erhaltung ihrer Bestände kümmert. Darin besteht ja, im traditionellen Bibliotheksverständnis jedenfalls, ihre Aufgabe. Und dass Private dafür zahlen (sollen), ist ja auch ok: spart uns Steuerzahlern Geld.
Gleichwohl nehme ich ganz grundsätzlich heftig Anstoß an einem gesellschaftlichen Klima, in dem Geld für die Restauration alter Schinken (Beispiel: "Giovanni Boccacio. Vijftigh lustighe historien oft nieuwigheden. Amsterdam, 1644") aufgebracht wird, die Verfügbarmachung von alter Literatur aber der Firma Google 'übertragen' wird. DAS wäre die Aufgabe einer zeitgemäßen Bibliothekskultur, Texte im größtmöglichen Umfang für die ganze Welt im Internet zur Verfügung zu stellen. Statt dessen hockt das Bibliothekarsvolk wie der Drache Fafnir oder der Zwerg Alberich auf seinen Schätzen und unsere Gesellschaft wirft unnötig Geld für traditionelle Bibliotheksarbeit raus, anstatt Bibliotheken durch Digitalisierung im größtmöglichen Umfang einerseits überflüssig, andererseits verfügbar zu machen. So ließen sich (längerfristig) Kosten zu sparen. Vor allem aber würde Wissen mehr als bisher für jeden zu minimalen Kosten im maximalen Umfang verfügbar.
(Vgl. ausführlicher auch meinen Blott "Wenn 'Weimar leuchtet', sollten beim Steuerzahler die Alarmglocken aufleuchten" mit meiner Kritik am kostspieligen Wiederaufbau der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar.)
Eine dem Computerzeitalter angemessene Bibliothekspolitik würde dann etwa dafür sorgen, dass nicht einfach irgendein Buchexemplar digitalisiert wird, wie es gerade in der jeweils mit Google kooperierenden Bibliothek (hier der New York Public Library) vorhanden ist, sondern die jeweils am besten lesbaren Seiten aus mehreren Exemplaren. Außerdem wäre der Text als solcher einzutippen, damit man ihn digital durchsuchen kann. Das wäre wahrhaftig nicht billig, aber es wäre zweckmäßiger und zeitgemäßer als das Geld für Restaurierungsarbeiten von relativ banalen Buchausgaben rauszuwerfen. Sicher gibt es kostbare Buchexemplare, deren Erhaltung sich lohnt: mittelalterliche Evangeliare etwa, oder sonst illuminierte Bücher. Aber einen Kult des Alten um seiner selbst willen lehne ich ab.
Insoweit stimme ich mit Gustav Nicolai überein (Bd. 1, S. 198; seine Kritik bezieht sich allerdings auf Kunstwerke und deren künstlerischen Wert):
"Es mag natürlich sein und den Anforderungen der Pietät entsprechen, dasjenige aufzubewahren und in Ehren zu halten, was von den Vorfahren herrührt; allein man sollte dabei doch mit einiger Auswahl zu Werke gehen. ... Die Alterthumskrämerei ist eine beklagenswerte Manie!"]

Nun will ich aber wieder runterklettern von der Palme, und eine kommentierte Bibliographie deutscher Reiseliteratur über Italien in Sachen Gustav Nicolai konsultieren.
Lucia Tresoldi hat eine solche für (insgesamt 243) ausgewählte Werke aus dem Publikationszeitraum von 1452 bis 1872 erstellt u. d. T. "Viaggiatori Tedeschi in Italia. 1452 - 1870. Saggio bibliografico". Erschienen ist das Werk (hier eine Beschreibung auf Italienisch) in 2 schmalen Bänden von zusammen ca. 200 S. (mit einer Reihe von - nicht paginierten - schwarz-weißen Abbildungen auf Tafeln) im Jahr 1975 (Band 1) bzw. 1977 (Bd. 2) im Verlag Bulzoni editore in Rom. Hier ein Textauszug, der die damaligen Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Werk von Gustav Nicolai beschreibt:
"Un diluvio di proteste seguì alla pubblicazione dell'opera del Nicolai al quale risposero con indignazione quanti amavano l'Italia; tra questi: Ludwig Hermann Friedländer, Karl Witte, Franz von Gaudy, August Lewald, Wolfgang Menzel, Gerhard Merrem, Adolf Stahr e Friedrich Karl von Strombeck. Un più sereno giudizio fu dato dallo studioso Victor Hehn il quale riconobbe che il libro del Nicolai rappresentava una reazione alle esaltazioni del periodo romantico."
Übersetzt (von mir):
"Eine Flut entrüsteter Proteste aller derjenigen, die Italien liebten, folgte der Veröffentlichung des Werkes von Nicolai, darunter: Ludwig Hermann Friedländer ... . Ein abgeklärteres Urteil kam von dem Gelehrten Victor Hehn der erkannte, dass das Buch von Nicolai eine Reaktion auf die überspannten Lobpreisungen der Zeit der Romantik darstellte."
Als Quelle für ihre Ausführungen verweist sie auf einen Aufsatz von Joachim Wieder: „Italien, wie es wirklich ist", eine Polemik von 1833 (ein Aufsatz in einer Festschrift Luitpold Dussler a aus dem Jahr 1972). (Diese Festschrift, und damit auch den Artikel über Gustav Nicolai besitze ich - dem ZVAB sei Dank - mittlerweile ebenfalls. Er ist mit lediglich 17 S. etwas knapp geraten, und da ein großer Teil - naturgemäß - einer gerafften Widergabe der Inhalte von Nicolais Buch gewidmet ist, und weitere 2 Seiten dem Anmerkungsapparat, bleibt für eigene Analysen des Autors wenig Platz. Der Schlussabsatz gelangt zu einer abgeklärten Würdigung:

"In der Geschichte der deutschen Italienliteratur gab es gewiss früher bereits einzelne kritisch-nüchtern eingestellte Beobachter, bei denen ästhetische, kultur- und kunstgeschichtliche sowie archäologisch-historische Interessen im Hintergrund standen und eine verschieden gefärbte realistische Betrachtung vorherrschten, wie z. B. Archenholtz und Seume. Aber Nicolai steht am Beginn des heraufziehenden Zeitalters der Eisenbahn und der modernen Technik, der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung. Sein Italienbuch ist hinsichtlich der Voraussetzungen und materiellen Begleitumstände des Reisens nach dem Süden ein beachtenswertes Dokument am Ende der Epoche der Postkutsche und der Kleinstaaterei, der Zollschranken und der Passkontrollen, der schlechten Straßen [Anm. von mir: die Straßen in Italien lobt Nicolai gelegentlich sogar!] und unzulänglichen Verkehrsverhältnisse. Er fasst noch einmal in unvergesslicher Darstellung die Fülle der Unbequemlichkeiten und Strapazen zusammen, die Plackereien, Entbehrungen, Leiden, Gefahren und sonstigen Widerwärtigkeiten, die damals mit der kostspieligen Fahrt nach Italien verknüpft waren und von denen wir modernen Menschen im Zeitalter der triumphierenden Verkehrstechnik kaum noch eine rechte Vorstellung haben. Für die Art des Reisens und drüber hinaus für die kleine Welt der Wirtshäuser und ihrer Küchen, der Postillone und Mautbeamten, der Camerieri und Ciceroni, des Bettlervolkes und der Dienstbeflissenen wird das kuriose und amüsante Werk von Gustav Nicolai gleichfalls eine kulturgeschichtlich aufschlussreiche Quelle bleiben".

So isses! Und deshalb würde ich mir auch eine Neuauflage wünschen, zusammen mit den Anti-Nicolai-Polemiken.


Nachtrag 13.06.2009

In seinem 2-bändigen Werk "DAS DEUTSCHTUM IN ROM SEIT DEM AUSGANG DES MITTELALTERS" (Stuttgart 1927) gibt uns FRIEDRICH NOACK folgende Lebensdaten von Nicolai und dessen Aufenthaltsdaten in Rom (Bd. 2, S. 424) (meine Hervorhebungen):
Geboren 28.5.1795 Berlin, gestorben 1852. In Rom 11. - 16.06. + 29.06. - 03.07.1833.
Nicolais Reisebericht beurteilt Noack wie folgt (Bd. 1, S. 452/453):
"Um diese Zeit kam eine merkwürdige Bewegung in die Reihen der deutschen Verehrer Italiens, hervorgerufen durch das 1834 gedruckte Buch des Berliner Divisionsauditeurs Gustav Nicolai „Italien, wie es wirklich ist; Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen". Dieses Buch war die Frucht einer Reise, die der Verfasser in den Sommermonaten 1833 unternommen hatte; er hat das Land nur in einer einzigen und nicht der günstigsten Jahreszeit gesehen und hat nicht ganz drei Monate auf die Reise verwandt. In Rom verweilte er im ganzen nicht mehr als neun Tage, vom 11. bis 16. Juni und auf der Rückreise vom 29. Juni bis 2. Juli. Dass man auf einem so raschen Flug durch ein fremdes Land es nicht kennenlernen kann, bedarf keines besonderen Beweises, und ein einsichtiger Mann würde es nicht gewagt haben, auf Grund einer so oberflächlichen Bekanntschaft sein Urteil über das Land und was von Menschen und Dingen darin ist zu bilden und gar noch drucken zu lassen. Nicolai besaß den zweifelhaften Mut, es dennoch zu tun, und hat dafür büßen müssen. Denn seine sauertöpfische Warnung vor einer Reise nach Hesperien, an dem er kein gutes Haar gelassen hat, rief eine Flut von Entrüstung und Hohn nicht allein von Seiten der blinden Italienschwärmer, sondern auch an Geist und Bildung hochstehender und urteilsfähiger Männer hervor, die das Land gründlich kannten. Der Verleger Otto Wigand bereute nachträglich, das Buch angenommen zu haben, und bezeichnete es selbst gegen Hektor Frank, der eine Widerlegung desselben zu schreiben beabsichtigte, als „literarischen Schund". An Gegenschriften und scharfem Widerspruch hat es ohnedies unmittelbar nach seinem Erscheinen nicht gefehlt. Der Tondichter Otto Nicolai verwahrte sich 1835 öffentlich dagegen, für den Verfasser dieser „Fluchschrift" eines „gallensüchtigen Hypochonders" gehalten zu werden, Wolfgang Menzel sagte in seiner Reise nach Italien in demselben Jahre, der Berliner Auditeur sollte sich seiner Klagen über die kleinen Unbequemlichkeiten, die er erlebt hatte, aus tiefster Seele schämen, August Lewald erklärte in seinem Reisehandbuch, die Art, wie Nicolai das Land gesehen und beurteilt habe, würde „dem plumpsten Inselbewohner (lies: Engländer) Ehre machen". Freiherr von Strombeck, der 1835 dieselbe Reise unternahm, hat in seiner Beschreibung derselben an mehreren Stellen scharf mit ihm abgerechnet, Karl Witte hat das Buch mit vornehmer Ironie als das Machwerk eines Philisters ohne höheres Streben abgetan und ihm spöttisch dafür gedankt, dass er durch seine Warnung alle ihm ebenbürtigen Unberufenen, die keinen höheren Trieb als Neugier und Vergnügungssucht zum Besuch Italiens haben, davon abhielt. Ebenso haben Gaudy, Merrem, Stahr, Vincke die Nicolaische Schreiberei über Italien abgelehnt. Am schlimmsten erging es dem unseligen Verfasser in den Blättern für literarische Unterhaltung, die bis 1848 kein Buch über italienische Reisen besprochen haben, ohne ihm dabei jedes Mal gründlich den Kopf zu waschen. Die Beurteilung, die in derselben Zeitschrift Ludwig Hermann Friedländer 1834 dem neu erschienenen Buch zuteilwerden ließ, fiel so gepfeffert aus, dass der Herr Divisionsauditeur der 2. Gardedivision Klage wegen Beleidigung gegen den Rezensenten und den Verleger erhob. Der aufsehenerregende Prozess, der eine allgemeinere Bedeutung für das Recht der literarischen Kritik überhaupt gewann, endigte am 27. Juni 1836 mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts zu Naumburg, die den Kläger kostenfällig abwies, weil in Friedländers Besprechung eine Beleidigung des Verfassers von „Italien, wie es wirklich ist" nicht zu finden sei. Viktor Hehn hat in seinen Reisebildern dem verunglückten Kritiker Italiens eine gewisse Genugtuung verschafft, indem er zwar zugab, dass derselbe das „Todesurteil" mannigfach verdient hätte, aber seine schroffen Übertreibungen insofern für nützlich und notwendig erklärte, als dadurch der gedankenlosen Italomanie ein entscheidender Stoß versetzt und die Wiederherstellung der Wahrheit möglich geworden sei. Es mag dahingestellt sein, ob wirklich Nicolais Buch die Wendung bewirkt hat, oder ob sie auch ohnedies durch neue geistige Strömungen herbeigeführt worden ist. Jedenfalls hat das Schicksal dieses verwegenen Italienreisenden die Wahrheit des französischen Sprichworts bestätigt, dass die Lächerlichkeit tötet. Ungeheure Heiterkeit erregte 1836 auf Nicolais Kosten die Pseudonyme Spottschrift von Adamssohn „Schreiben eines Flohs, welcher mit Herrn G. Nicolai die Schnellfahrt durch die hesperischen Gefilde gemacht hat, an seine Freundin, eine Wanze in Italien". Wenn A. G. Eberhard in seinem 1839 veröffentlichten Buch „Italien, wie es mir erschienen ist", welches durchweg eine humorvolle Abfertigung Nicolais ist, dessen Schrift für eine Leiche erklärte, so hat er den Nagel auf den Kopf getroffen, denn es hat niemand mehr gewagt, auf dessen Spuren durch Italien zu fahren.
Dagegen brachten die nächsten Jahre noch zahlreiche Reisewerke geistvoller und hochgebildeter Menschen, die das Große und Schöne in Rom und Italien mit vollem Verständnis würdigten, ohne in eine ungesunde Schwärmerei zu verfallen
."


Nachtrag 19.06.09

Das ist eine spaßige Koinzidenz: Vor wenigen Stunden (bei planmäßigem Ablauf) wurde in Rom ein Vortrag (von freilich nur einer halben Stunde) über das Italien-Buch von Gustav Nicolai gehalten:
"11.45-12.15 Golo Maurer (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg). Gustav Nicolais „Italien, wie es wirklich ist“ – Protest eines Protestanten. “L’Italia com’è in realtà“ di Gustav Nicolai – La protesta di un protestante" lesen wir, auf der Webseite H-Soz-u-Kult. (Eigenbeschreibung: "H-Soz-u-Kult ist Fachforum und moderierte Informations- und Kommunikationsplattform für Historikerinnen und Historiker und veröffentlicht fachwissenschaftliche Nachrichten und Publikationen im Internet.")
Angekündigt wird dort ein "Symposium: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im 'langen 19. Jahrhundert' " [also vermutlich von ca. 1800 bis 1914]. "Veranstalter: Istituto Svizzero di Roma; Deutsches Historisches Institut in Rom; Melanchton Zentrum, Philipps Universität Marburg Rom
Datum, Ort: 18.06.2009 - 21.06.2009, Istituto Svizzero di Roma, Deutsches Historisches Institut in Rom.
"
Also, ehrlich gesagt: einen halbstündigen Vortrag über Gustav Nicolais Italienreisebuch hätte ich auch noch zusammengestoppelt, zumal wenn man mir dafür eine Romfahrt bezahlt hätte ;-). (Eine kleine Hürde wäre freilich vorher zu nehmen gewesen: meine Lektüre macht zwar Fortschritte, ist aber noch lange nicht am Buchende angelangt.)

Es wäre ja nicht schlecht, wenn bei der Wiederbeschäftigung mit Nicolai etwas Substantielleres heraus käme als der zwar solide, aber doch recht kurze o. a. Aufsatz von Joachim Wieder.
Reizvoll wäre ein halbwegs systematischer Vergleich des für die Öffentlichkeit geschriebenen Italienbuches von Nicolai und den privaten brieflichen Reiseberichten des Goethe-Sohnes August, die unter dem Titel "August von Goethe. Auf einer Reise nach Süden" veröffentlicht wurden. Das in meinem Blott "DER WANDERER - ZUM DRITTEN!" konstatierte Klein-Klein in den Goethe-Junior-Briefen findet sich - freilich nicht ganz so Makrofotografisch - auch bei Nicolai.
Auf jeden Fall geben uns beide Zeitgenossen, die etwa zur gleichen Zeit gen Süden gereist sind, eine ganze Menge interessanter Informationen über das italienische Alltagsleben.


Textstand vom 21.04.2023

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