Sonntag, 31. Mai 2009

Vox populi vox bovi oder Vox populi vox dei? Ein ZEIT-Disput über den intellektuellen Rinderwahnsinn der Massen.

Leute, welche wie ich die Klowände des Internets beschmieren (wie der Werbeagenturchef Jean-Remy von Matt einst so prägnant formulierte), z. B. als Blogger oder als Freizeitpoeten und ~poetinnen, bekamen auf der Webseite der ZEIT vom 20.05.2009 ihr Fett von Adam Soboczynski weg: "Netzkultur. Das Netz als Feind", nämlich als ein Instrument der wild gewordenen Massen zur Hatz auf diejenigen, welche sich für Geistesgrößen halten:
"Warum der Intellektuelle im Internet mit Hass verfolgt wird"
will Soboczynski in seinem angesichts der Thematik verhältnismäßig kurzen Essay aufdecken und entdeckt dort zunächst einen
"Abscheu, der sich ... über die letzten Bastionen sachkundiger Meinungsbildung ergießt", eine "antiintellektuelle Hetze in den Kommentaren ..., die sich gegen angeblich Sperriges richtet, gegen kühne Gedanken, gegen Bildung überhaupt".
Alles kämpft heute gegen die Pinscher, äh, ich meine, die Intellektuellen, sogar die Universitäten und Verlage haben sich heutzutage gegen diese Menschensorte verschworen. Besonders schlimm sind jedoch Kulturkritikkritiker:
"Mit zum Plumpesten gehört derzeit die Kritik an Kulturkritik".
Diese Behauptung erfreut mich, denn schließlich habe ich dafür einen eigenen Täg eingerichtet und weiß also mit Gewissheit, dass ich Soboczynskis Kritik auch auf mich beziehen darf. Und das wir Massenmenschen erfolgreich sein werden, denn
"Als der, der er bislang war, Störenfried des Konsenses, Vermittler von Wissensbeständen, Korrektiv des Staats, wird er [der Intellektuelle] verschwinden."
Und ich werde von mir sagen können, daran mitgewirkt zu haben!
Das heißt, aus anderer Sicht wird gesagt werden:
Der da hat sich daran mitschuldig gemacht!


Doch schon naht Trost spendend Gero von Randow zu meinem Sukkurs und balsamiert - in einem etwas umfangreicheren Aufsatz - meine Bloggerseele, sowie die Seelen des die Poesie profanierenden sonstigen Pöbels, mit seiner Gegenrede (ZEIT vom 28.05.09) "Internet-Debatte. Geistesaristokratie":
"Nicht alles im Internet ist schön – na und? Das Netz ist demokratischer als viele seiner Kritiker. Eine Replik".
"Am Anfang steht ... eine Verwechslung. In dem Artikel ist vorwiegend von Journalisten die Rede. Doch nicht das Impressum macht den Intellektuellen, ebenso wenig wie das Vorlesungsverzeichnis oder der Verlagsprospekt. »Intellektueller ist man immer nur im Nebenberuf«, bemerkte der Bielefelder Philosoph Martin Carrier einmal. Fast alle Untersuchungen zum Thema nähern sich folgender Definition an: Wer aufgrund fachlicher oder künstlerischer Leistung ein ganz besonderes Ansehen genießt und dieses nutzt, um sich auf geistig hohem Niveau wirkungsvoll zu Themen zu äußern, die das allgemeine Wohl betreffen – den nennen wir einen Intellektuellen. Sartre war einer, ich bin keiner [das ist halt eine Definitionsfrage; ich denke, dass die Mehrheit der Beurteiler auch den Wissenschaftsjournalisten Gero von Randow als Intellektuellen bezeichnen würde].
Dürfen Verwaltungsfachangestellte Gedichte veröffentlichen?
Der Intellektuelle wagt sich aus der Deckung ins Getümmel. Er nutzt alle geeigneten sprachlichen Mittel, aber nicht, um sich und seinesgleichen abzugrenzen, sondern um die Bürger zu bewegen. Er ist eben kein »Geistesaristokrat«, der sich der Demokratie »wesenhaft entzieht«, wie Soboczynski glaubt. Fragwürdig, wie er über die Demokratie schreibt. Und über das Volk. ... tritt das Volk in dem Artikel als surfende »Gaby« auf, als bloggender »Kneipier« und dichtende »Verwaltungsfachangestellte«. ...
Ja, die »Massen«. Sie müssen wohl sein, die Gabys und die Verwaltungsfachangestellten, ohne sie gäbe es keine Aristokraten. Aber sie sollen dort bleiben, wohin sie gehören. ...
Hinter der Wut auf das Netz scheint die Angst vor Konkurrenz auf. .....
"


Ich schaue amüsiert zu; den von Soboczynski behaupteten Hass der Internautenmassen auf die Intellektuellen habe ich als Massenphänomen jedenfalls noch nicht wahrgenommen.

Interessant ist immerhin die folgende Google-Suchstatistik:

"vox populi vox bovi" generiert 118 Treffer;
"vox populi vox dei" bringt dagegen 575.000 Fundstellen hervor!

Das Volk, auch dasjenige der Wikipedisten, sieht sich offenbar lieber als Gott denn als Ochsen .

Im übrigen erscheinen "vox populi vox bovi" "vox populi vox dei" nur auf sieben (mittlerweile 9: davon meine zwiefach) Webseiten gemeinsam in trauter Vereinigung der Gegensätze.
Eine davon ist italienischsprachig, eine in einer slawischen Sprache. Einen weiteren Treffer spendiert den Suchenden die Webseite "Sklavenzentrale" - passt irgendwie, denn in der einen oder anderen Weise sind wir ja alle Sklavinnen und Sklaven - nicht unbedingt von irgendwelchen Herren, sondern einfach als Systemgefangene.
Näher an der o. a. Debatte ist allerdings der Artikel:
"Alternative Medien als Instrumente einer Gegenöffentlichkeit" von Agon S. Buchholz für Kefk Network Politik vom 20.06.2005.

Natürlich habe ich auch beim vorliegenden Blott einige Link-Erträge in die Scheuern gefahren:
- zum Wikipedia-Artikel "Direkte Demokratie" z. B., oder auch zur Webseite
des Berliner Vereins
- "Mehr Demokratie e.V."

Dass die direkte Demokratie keine Freikugel (silver bullet) zur Lösung politischer Probleme darstellt, und keineswegs unbedingt der ökonomischen Vernunft zum Siege verhilft, habe ich exemplarisch in meiner Analyse eines Bürgerbegehrens zum Hallenbadbau in Bad Reichenhall untersucht: "Bad Reichenhall: Das geplante Hallenbad, Sportbad oder Familienbad wird kein Spaßbad – für den Steuerzahler".
Als ein zentrales Problem erweist sich dabei der Umstand, dass in einem solchen Verfahren nur eine äußerst beschränkte Zahl von Alternativen 'durchgehechelt' werden kann.

Im übrigen wäre es auch naiv zu glauben, dass jeder, der für mehr Volksbeteiligung plädiert, das wirklich ernst meint, auch wenn er es selbst wirklich ernsthaft glauben mag. Vgl. dazu meinen Blott "Das Ende des Wei(s)sen Mannes. Polit-Plädoyer ohne Leidenschaft."


Textstand vom 21.04.2023

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